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„Immer geht der Blick zuerst nach oben“

Kälte, Weite, Stille – und Millionen von Sternen. Norwegen im Winter, der Sehnsuchtsort für Outdoorfans und Zivilistationsflüchtlinge, Fotograf und Outville-Ambassador Lars Schneider hat ihn besucht. Auf einer Hundeschlittenexpedition durch den Norden des Landes konnte er das Thema Polarlichter auf seiner fotografischen Bucketlist abgehaken.
Text & FotosLars Schneider

Es ist der erste Abend an dem ich im Schnee stehe, den Kopf in den Nacken lege und den Himmel beobachte. Der Atem kondensiert vor meinem Gesicht, doch Millionen von Sternen funkeln durch den Dampf hindurch. Gleich könnte es losgehen. Oder in zehn Minuten. Oder in drei Stunden. Es ist schwer zu sagen, wie lange man ausharren muss. Nordlichter sind nicht vorhersagbar. Zumindest nicht, wenn man fern der Zivilisation auf einem kleinen Hügel steht und keine Internetverbindung hat. Da hilft es nur, ab und an das Zelt zu verlassen und einen Blick nach oben zu werfen. Denn eines ist sicher: dieses Jahr ist ein besonderes für Polarlichter. Die Sonne befindet sich am Ende einer elfjährigen Periode mit besonders vielen und kräftigen Sonnenstürmen. Diese wiederum schleudern geladene Teilchen ins All, die beim Auftreffen auf die Erdatmosphäre Nordlichter entstehen lassen. Im Flugmagazin bei der Anreise stand es sogar schwarz auf weiß in einem Zitat der NASA: „In 50 Jahren gab es keine kräftigeren Nordlichter, als in diesem Jahr.“ Perfekt.

Auch wenn es sich gerade so anfühlt unter dem großen Himmel, in dieser großen Stille – ich bin nicht allein hier draußen. Ringsum, in der tief verschneiten, nordnorwegischen Winterlandschaft, liegen 47 Schlittenhunde. Und im Lavvu, dem Samenzelt, in dem wir unsere erste Nacht draußen verbringen, sitzen Björn Klauer, unser Guide und fünf weitere Teilnehmer der kleinen Huskyexpedition, die uns in acht Tagen vom kleinen Nest Innset (knapp 200 südlich von Tromsø gelegen, der größten Stadt im Norden des Landes) über den großen, zugefrorenen See Altevatn und durch die beiden Nationalparks Øvre Dividal und Rohkunburi führen wird. Ihre Schatten zeichnen sich auf dem hellen Stoff des Lavvus ab, von Zeit zu Zeit kommt jemand nach draußen, um Feuerholz zu holen oder Schnee, der für die nächste Runde Tee geschmolzen werden muss. Und immer geht der Blick zuerst nach oben. Wir sind alle gespannt.

Ich kenne Björn seit neun Jahren. Damals hatte ich das erste Mal an einer seiner Touren teilgenommen. Und auch damals stand ich an dieser Stelle, während über uns ein gigantisches grünes Leuchtfeuer abbrannte. Das Problem: Meine Kamera hatte in der kalten Nacht ihren Geist aufgegeben und ich blieb ohne ein einziges Foto des Spektakels. Für heute Abend wünsche ich mir eine Revanche. Schon seit Jahren. Auch den ganzen Tag auf dem Schlitten hatte ich an nichts anderes mehr denken können. Und so unglaublich es klingen mag: Plötzlich geht es los, ein grünes Band flackert auf, überspannt den Himmel bald von Horizont zu Horizont, erst langsam schwingend, dann stärker wabernd und flackernd. In immer kräftigeren Wellen und plötzlichen Eruptionen, so nah, so klar. Die weiße Winterlandschaft schimmert ganz grün. Ich kann es kaum fassen. Und die Kamera läuft und läuft, und ich weiß gar nicht wohin mit meiner Freude.

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Lange flackert es noch am Himmel, mal schwächer, dann erneut kräftiger und wilder als zuvor. Björn und ich stehen immer wieder vor dem Zelt, irgendwann mit der Zahnbürste in der Hand – zwischenzeitlich haben wir eine große Portion Spaghetti Bolognese verdrückt. Und er erzählt, dass er kaum je ein so kräftiges Polarlicht erlebt hat. „Ich glaube, in über 20 Jahren nur ein einziges Mal.“

Wer hinten aufhört zu schieben, erntet sechs genervte Blicke von vorn

Wenn eine Tour mit einem Highlight startet, dann darf man gespannt sein, was an den nächsten Tagen folgt. Und es ist kaum vorstellbar, dass es besser werden kann, als der erste Tag, an dem wir fast entspannt über die ebene Fläche des Altevatn geglitten waren, den Blick über die frisch verzuckerte Landschaft schweifen lassen konnten, und den Hunden, die sich so sehr aufs Laufen gefreut hatten, die meiste Arbeit überlassen durften. Auch Tag zwei beginnt vielversprechend: Als wir unsere Schlitten beladen, ist der Himmel bereits blau, nur die Sonne versteckt sich noch hinter einem Berg. Die Hunde freuen sich wie gestern und springen wild an ihren Ketten in die Luft, drehen sich um die eigene Achse, heulen und jaulen und bellen, dass man meint, ihnen würde gleich die Luft wegbleiben. Ihnen bei all ihrer Freude gleichzeitig das Geschirr anzulegen und sie vorbei an allen anderen Hunden an ihren Platz im Gespann zu bringen, ist da nicht gerade einfach.

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Als alle Schlitten fertig beladen und die Hunde eingespannt sind, steigert sich der Lärm ins Unermessliche. Aus fast 50 Hundkehlen dringen die wildesten, dringlichsten, forderndsten Laute. Jeder meiner sechs Hunde – Kira, Scott, Snickers, Flocke, Troms und Smilla – stemmt sich mit aller Kraft in die Seile. Sie wollen los. Jetzt. Ich stehe mit dem Fuß auf der Bremse, das an einem Baum befestigte Starterseil spannt sich zum Zerreißen. Vorn fährt Björn los, gefolgt von Johannes und Maren. Hinter mir warten Michael, Katrin und Göran. Mit einem kleinen Sicherheitsabstand gehe ich auf die Reise. Ich löse mein Seil und obwohl ich noch komplett auf der Bremse stehe, schieße ich davon, den anderen hinterher. Ich brülle nach vorn und versuche die Hunde zur Mäßigung zu bewegen, doch keine Chance. Dort zählt jetzt nur eins: Laufen. Und so lasse ich sie machen, und halte mich fest. Wer vom Schlitten fällt, hat das Gelächter auf seiner Seite.

Nach drei wilden Minuten verlassen wir den Schatten des Berges und dringen ein in das sprichwörtliche Winterwunderland. Die verschneite Landschaft funkelt im Licht, von krüppeligen Birken rieselnde Schneekristalle glitzern um die Wette, was die Hunde aufwirbeln, stiebt trocken zu beiden Seiten. Links wächst der Rohkunburi in den wolkenlosen Himmel, jener Berg, der dem erst 2012 eröffneten Nationalpark seinen Namen gab. Vor uns liegt welliges Land, gespickt mit knorrigen Baumgruppen und gefrorenen Tümpeln, und dann der See Geavdnjajávri, auf dem wir wieder entspannter unterwegs sein können. Ab und an treten, als wollte man ein Skateboard fortbewegen, mehr braucht es nicht auf der gleichmäßigen Schneefläche des großen Sees. Die Hunde machen das schon. Erst wenn das Gelände schwieriger wird, ist man gefordert. Dann erreicht man das Ziel nur in enger Teamarbeit. Und wer dann hinten aufhört zu schieben, erntet schnell sechs genervte Blicke von vorn.

Gegen Mittag legen wir ein Pause ein, kippen alle Schlitten auf die Seite, werfen die Ankerkrallen aus und treffen uns mit Thermoskannen und Keksen an meinem Schlitten, der in der Mitte unseres Konvois liegt. Doch wie gestern wird auch diese Pause von meinen Hunden unterbrochen, die schon nach wenigen Minuten unbedingt weiter wollen. Plötzlich stürmen sie los, es ist ihnen völlig egal, ob der Schlitten, den sie hinter sich her ziehen noch auf der Seite liegt und sich der Anker immer tiefer ins Eis gräbt. Hauptsache laufen, auch wenn’s schwer ist. Ein bisschen verrückt sind sie schon, vermute ich manchmal. Liebenswürdig verrückt.

Ich schramme knapp an Bäumen vorbei, als der Schnee links nachgibt und der Schlitten einfach umkippt

Die nächsten Tage verbringen wir zwischen Rohkunburi und Dividal Nationalpark, legen am Tag bis zu 45 Kilometer zurück und übernachten in kleinen, rustikalen und größeren, komfortablen Berghütten. Björn führt uns durch Schneestürme und über Pässe, auf ihn ist Verlass, man spürt, dass er in dieser Welt zuhause ist, dass ihm seine Hunde ein tiefes Vertrauen schenken. Und er kann gut kochen. So etwas ist am Ende von langen Tagen in der Kälte nicht unwichtig. Als Snacks hat er Würste und Schinken aus eigener Fertigung dabei. Und die Nordlichter? Kommen für ein paar Tage wieder und erhellen die Dunkelheit mit ihrem grünen Leuchten. Was haben wir doch für ein Glück.

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Nach einer großen Runde um den östlichen Altevatn nähern wir uns am siebten Tag wieder seinem Nordufer. Noch eine Nacht wollen wir im Lavvu verbringen, bevor es dann zurück zur Huskyfarm von Björn und seiner Frau Regina in Innset geht. Das Problem: Zwischen uns und dem See liegt ein steiler Berghang, der nicht umgangen werden kann. Und Abfahrten mit beladenen Schlitten und wilden Hunden sind kein Spaß. Es ist absolute Vorsicht geboten, das Tempo muss gedrosselt werden, so gut es geht, damit man nicht sein eigenes Gespann über den Haufen fährt. Am letzten Absatz, bevor es 330 Höhenmeter in die Tiefe geht, halten wir noch einmal. Die Hunde verbleiben nur mit ihren Halsbändern in der Leine. Jetzt müssen die Leithunde noch mehr als sonst die Leine straff halten, damit weiter hinten jeder an seinem Platz ist, und es keine Rangeleien gibt.

Mit großen Abständen machen wir uns an die Abfahrt. Erst geht es sanft, dann steiler, Stufe um Stufe, hinab zum See. Der Schnee ist glücklicherweise tief genug, so dass die Bremse meistens greift, und auch die Hunde halten ihr wildes Gemüt für eine Weile zurück. Vielleicht liegt es am trüben Himmel, der eine ungemütliche Wetteränderung ahnen lässt. Ich habe es schon fast geschafft und gleite auf den letzten Höhenmetern durch den Birkenwald am Ufer des Altevatns. Hier und da schramme ich knapp an Bäumen vorbei, als plötzlich der Schnee links nachgibt und der komplette Schlitten einfach umkippt. Verdutzt schauen sich die Hunde zu mir um. Ich kann ihnen nur mit einem Lachen antworten. „Ich mach das halt nicht so oft wie ihr.“

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Als wir nach einer Nacht im Lavvu am nächsten Morgen auf den See hinausfahren, für die letzten Kilometer nach Innset, bringt uns der Sturm fast zum Stehen. Direkt aus Nordwest bläst er uns ins Gesicht, treibt Eiskristalle vor sich her, die in die Haut stechen. Gesichter verschwinden unten Kragen, in Kapuzen, hinter Skibrillen. Und meine Hunde? Als wäre nichts anders als sonst, stemmen sie sich in die Geschirre, neigen die Köpfe kaum merklich aus dem Wind und sind stark wie jeden Tag. Es ist ein Genuss, ihnen zuzuschauen, bei der Arbeit, bei der Sache, die sie am liebsten tun: Laufen. Und Ziehen. Für den großen, zweibeinigen Leithund hinten, der mit ihnen auf die Jagd geht und sie mit Essen versorgt. Danke Kira, danke Scott, danke Snickers und Flocke, danke Troms und Smilla. Danke für die tolle Zeit mit Euch.

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Lars ist ein Urgestein der deutschen Outdoor-Szene und einer der etabliertesten Adventure-Fotografen in Europa. Der Hasselblad Ambassador lebt mit seiner ebenfalls Outdoor-begeisterten Familie in Hamburg. Er liebt Dorothy, seinen 38 Jahre alten VW T2, der im kalifornischen Exil lebt. Wenn keine Zeit für Paddel-, Bike oder Powder-Trips in Norwegen, Schottland oder Kalifornien ist, rennt er nachts mit den Jungs von den Hamburger Tide Runners durch die Hansestadt.

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