Was macht einen Trip speziell? Zu einem Erlebnis, das dir immer in Erinnerung bleibt und von dem du noch Jahre später erzählst? Zu einer Reise, an die du vermutlich auch dann noch zurückdenkst, wenn du alt und klapprig auf dem Sofa sitzt?
Zuallererst sind das natürlich die Leute, die dabei sind. Und die Vorfreude, vielleicht sogar die Aufregung vor dem Start. Der Grund fürs nervöse Magengrummeln ist meist die Herausforderung, die dem Trip innewohnt. Und die Frage, ob man sie bewältigt. Dieses winzige “... und was ist, wenn ich es nicht schaffe?”, das sich trotz aller Vorbereitung und noch so perfekter Ausrüstung nicht ganz ausschalten lässt. Und natürlich immer ein wichtiger Aspekt bei Outdoorabenteuern: die Bedingungen, das Wetter.
Am Ende ist es vermutlich die Kombination dieser verschiedenen Dinge. Und die daraus resultierende Sicherheit, dass du so etwas noch nie erlebt hast und in der Form sicherlich auch nicht mehr erleben wirst: Dieser Trip ist unwiederholbar. Er war fantastisch, aber jetzt ist er vorbei. Das wars, sowas kommt nicht mehr, auf keinen Fall. Das Einzige was du tun kannst, ist die Erinnerung wachhalten.
Als ich nach vier Etappen Freeride Alpencross mit über 100 Kilometern, nicht ganz 3.000 Höhenmetern aus eigener Kraft und 11.000 Tiefenmetern in den Knochen und in der Leber vom Vorabend ungefähr vier Bier und drei Gin Tonics heimwärts im Bus saß, trieb mich diese Erkenntnis um. Und ich stellte mir die Frage: Wie halte ich so einen unvergesslichen Trip in Worten fest? Was, wenn die anderen sich beim Lesen denken: „So war’s doch gar nicht!“ Ich befürchtete, das gemeinsam draußen Erlebte nicht alleine zuhause niederschreiben zu können.
Die Aufregung vor dem Abenteuer
Fünf Tage vorher ebenfalls im Bus auf dem Weg zum Startpunkt nach Livigno hatte ich eine ganz andere Sorge: „Schaffe ich den Alpencross wirklich oder ist das eine Nummer zu groß für mich?“ Die Tourenbeschreibung sprach von maximalen Tageshöhenmetern um die 1.300 und insgesamt irgendetwas um die 10.000 Höhenmetern, wenn auch mit Liftunterstützung. Noch vor einer Woche war ich kurz davor abzusagen: Ich hatte viel zu viel Arbeit, eine leichte Erkältung und kürzlich Rückenprobleme, die sogar einfaches Gehen nahezu unmöglich machten. Skitouren um die 1.300 Höhenmeter bin ich als abfahrtsorientierte Skifahrerin maximal drei Stück in meinem Leben gegangen. Und da man in diesem Jahrtausendwinter keinen einzigen Schritt tun musste, um perfekten Powder zu finden, war ich nicht gerade gut trainiert. Dass die anderen, zumindest TeilnehmerINNEN, die selben Selbstzweifel hatten, hat mich zwar beruhigt, mir die Angst aber nicht genommen. Ich dachte, es ist bestimmt wie damals in der Schule: Alle sagen sie können nichts und dann schreiben sie sowieso eine eins. Vom im Bus verteilten Dosenbier habe ich lieber mal keines getrunken...
Erste Etappe: Von Livigno nach Zuoz
Weniger Zweifeln, mehr Genießen! Das beschloss ich spätestens beim Abendessen und der ersten Lagebesprechung in Livigno. Schließlich bestand die Aussicht auf ziemlich guten Schnee, die letzten Tage hatte es immer wieder geschneit, der Wetterbericht war auch einigermaßen ok. Die Guides und anderen Teilnehmer waren sympatisch, die Stimmung großartig und das italienische Essen überzeugte bis zum letzten Happen Tiramisu. Es tat der allgemeinen guten Laune keinen Abbruch, dass die Bergführer umdisponierten und am nächsten Tag eine andere als ursprünglich geplante Route gehen wollten. Der Grund dafür war die etwas angespannte Lawinensituation und ein aktueller Vorfall in Livigno, das über einen eigenen, von einer Expertencrew aus Geologen, Meteorologen, Geographen und Umweltwissenschaftlern erstellten, sehr präzisen Lawinenlagebericht verfügt. Statt wie ursprünglich geplant um die 700 Höhenmeter müssten wir am nächsten Tag auf dem Weg nach Zuoz im Schweizer Kanton Graubünden nur um die 300 Höhenmeter bewältigen, sagten die Guides, aber natürlich spielten sie mit dem Gedanken, spontan noch einen Run inklusive Aufstieg draufzupacken. Uns kamen die reduzierten Höhenmeter entgegen: genug Zeit uns an das uns vom Veranstalter, den Herstellern Marker, Völkl und Dalbello, zur Verfügung gestellte Equipment zu gewöhnen.
Am nächsten Tag schenkt uns Livigno einen perfekt blauen Himmel. Die vier Guides teilen die 14 Leute in drei Gruppen ein, wir nehmen die Gondel ins Carosello 3000 Gebiet und fahren uns eine Runde auf der Piste warm. Danach folgt schon der erste Off-Pist Run im frischen Pulverschnee hinab Richtung Val Federia. Ein kurzer Aufstieg bringt uns zurück zum Lift. Gelegenheit, unsere Spitzkehrentechnik zu perfektionieren, sich vom Guide noch einmal daran erinnern zu lassen, den Ski lieber nach hinten rauszuschieben und die Latten möglichst parallel zu stellen.
Dann geht es mit dem Sessellift wieder nach oben und querend unterhalb vom Pizzo Cantone und Monte Campaccio aus dem Skigebiet hinaus. Es zeigt sich kein Wölkchen am Himmel, die Sonne strahlt, aber uns weht ein unangenehmer, zehrender Wind um die Ohren. Der Aufstieg umfasst nicht viele Höhenmeter, doch mein Kopf schmerzt, ich muss ständig trinken, irgendwie geht mir alles zu schnell und ich merke, wie hoch wir sind. Der Ort Livigno liegt bereits auf 1800 Metern, wir tappen gerade auf knapp 3000 Metern herum. „Das ist anstrengender als angekündigt“, denke ich. Als wir oben ankommen, weiß ich noch nicht, dass wir nach der Abfahrt die Felle nochmal für ein paar Kilometer aufziehen müssen, um das flache Tal Richtung La Punt herauszulaufen. „Höhenmeterangaben sind Schall und Rauch,“ denke ich, als wir im romanischen Dörfchen Zuoz in die Hotelbar einfallen. Es beruhigt mich, dass nicht nur ich so fertig bin. Das Bier haben wir uns verdient – und zwar nicht nur eine Stange, sondern gleich einen ganzen Kübel, oder zwei…
Zweite Etappe: Von Zuoz nach Klosters
Trotz der Erkenntnis, dass nicht nur der zu bewältigende Aufstieg aufs Anstrengungskonto gebucht werden muss, sondern eben auch Höhe, Geschwindigkeit oder Kilometer, wird mir angesichts der 1.200 Höhenmeter, die für den nächsten Tag geplant sind, schon vor dem Frühstück ganz übel. Doch auch am Morgen der zweiten Etappe versucht die Sonne meine Bedenken wegzulachen. Im kleinen Gebiet Zuoz sind die fünf Lifte eigentlich schon in der Sommerpause, doch dank der Überredungskünste unseres Guides Michi Bückers schalten die Locals den Lift kurzerhand noch einmal an. Mit den Fellen bereits an den Ski schweben wir über die harte Piste, auf der sich mehrere Skitourengeher mit Harscheisen abquälen, die ersten 500 Höhenmeter bergan. Ich denke abwechselnd darüber nach, dass ich nicht tauschen wollte und wie ich wohl mit Fellen, Bindung im Tourenmodus und dem dicken Rucksack auf dem Bauch möglichst galant aus dem Sessel komme. Irgendwie bekommen wir das hin und gehen weiter Richtung Piz Viroula in einer gemächlichen Steigung einer Scharte entgegen. Unterhalb graben die Guides ein Schneeprofil und schicken uns einzeln erst in Spitzkehren, dann mit den Ski auf dem Rücken hinauf auf den Grat. Auf der anderen Seite klettern wir ein paar Meter hinab, dann wartet die erste Abfahrt des Tages. Wir sind wirklich off, raus aus jedem Skigebiet, um uns nur weiß und blau, zwischendrin ein paar Felsen, über uns die strahlende Sonne. Hinter jeder Ecke, über jedem Grat scheinen die Berge anders auszusehen. Ich bin überfordert damit, zu gehen, zu fahren, zu essen, Felle auf- und abzuziehen und gleichzeitig diese Schönheit in mich aufzusaugen. Die Ausblicke, das Panorama, die Sonne, der Schnee… all das müsste eigentlich für mindestens einen ganzen Winter reichen. Kann bitte jemand kurz mal auf Pause drücken?!
Tut keiner, also geht es weiter mit dem zweiten Anstieg des Tages, eine Scharte Richtung Piz Kesch hinauf. Ich leide ein bisschen in mich hinein und bin gleichzeitig fürchterlich dankbar hier sein zu dürfen – ein absurdes Gefühl. Ich komme nicht in meinen Tritt, an den noch ausstehenden dritten Anstieg mag ich gar nicht denken. Meiner „Geschwindigkeits-Freundin“ Julia scheint es gerade besser zu gehen, den ganzen Tag bin ich ihren Skienden einfach hinterher getappt, jetzt läuft sie mir davon. Oben in der Scharte angekommen, erwartet uns ein unvergleichliches Lichtspiel aus aufgewehtem Schnee und Sonne. Wieder weiß ich nicht, wohin mit diesen ganzen Eindrücken. Wir fellen zum zweiten Mal ab und fahren in Richtung Keschhütte ab, halten uns aber rechts davon und bestreiten bald unseren letzten Anstieg für heute. Am Abend werden wir in Sertig Dörfli hinter Davos rauskommen. Ich kenne die kleine Siedlung mit Gaststätte und Skitourenparkplatz bereits, weil ich von dort mit einem Freund eine Tour am Piz Ducan gegangen bin. Was hab’ ich da gelitten… Ich verdränge die Gedanken und tappe wieder Julias Skienden hinterher. Diesmal hat sie zu kämpfen, bleibt immer wieder stehen und flucht. Ich lauf' einfach weiter, immer weiter… Während der Abfahrt versteckt sich die Sonne in Wolken, der Schneequalität tut es keinen Abbruch. Beim Kübel im Gasthof weiß ich, dass die anstrengendste Etappe des Alpencross geschafft ist. Jetzt kommen die Freeride Tage, sagen die Guides. Das höre ich gern.
Dritte Etappe: Von Klosters nach Stuben
Tag 3. Wieder Sonnenschein. Mit Gondel, Sessel und Schlepplift fahren wir aus Klosters Richtung Madrisa. Unsere Guides Chris Semmel und Flo Hellberg spuren nur wenige Höhenmeter hinauf. Danach haben wir die vielleicht beste Powderabfahrt des ganzen Trips, um gleich darauf wieder im Zick Zack eine kleine Scharte zu erklimmen, hinter der eine nur minimal weniger gute Abfahrt wartet. In Punkto Panorama bin ich mittlerweile ausgestiegen, auf meiner Festplatte für grandiose Ausblicke ist einfach kein Platz mehr, doch sie werden trotzdem ständig spektakulärer. Am liebsten würde ich alle drei Meter stehen bleiben und ein Foto machen, doch beim Anhalten bin ich völlig ausgelastet mit Schnaufen, Schauen, Staunen. Für die Fotos verlasse mich ganz auf Michis Bruder Julian, der uns als Backup Guide und Fotograf begleitet und ungefähr das 350fache meiner Kondition haben muss, so wie er jeden Tag um uns herumturnt.
Dieser Tag ist … unbeschreiblich. Ich fühle mich mies, weil mir nichts anderes, treffenderes, präziseres einfällt. So eine blabla-Aussage schreibt man nicht. Das lernt man in der ersten Stunde am ersten Tag des ersten Semesters im Journalistikstudium. Sicherlich war Etappe 2 nicht weniger eindrücklich, aber heute habe ich einfach mehr Kraft zum Genießen. Kurze Aufstiege, viel Abfahrt. Wetter, Schnee und Panorama verwöhnen uns so sehr, dass es fast weh tut. So wie die Oberschenkel, unten, fast angekommen in Gargellen, wo der Schnee schon etwas schwerer ist. Aber wen stört das schon, wenn man gerade in einem der schönsten und ursprünglichsten Skiorte Österreichs ankommt? Wir fahren ein Stück mit dem Bus bis nach St. Gallenkirch, von dort wieder mit dem Lift hinauf und dann hinab ins Silbertal. Am Ende müssen wir eine halbe Stunde tragen, da uns der Schnee im Stich lässt. Doch auch das ist völlig egal. Es geht noch mal ins kleine Skigebiet am Kristberg hinauf und auf einem Ziehweg gesäumt von tief eingeschneiten Bäume bis nach Dalaas im Klostertal. Die mit über 40 Kilometern und 4.300 Tiefenmetern längste Etappe ist zu Ende und trotzdem hätte ich noch ewig so weitermachen können.
Vierte Etappe: Von Stuben ins Kleinwalsertal
Um die vierte Etappe einigermaßen zu überleben, habe ich mich am Vorabend am Schnapsglas zurück gehalten und rechtzeitig aus der Mondschein Bar gestohlen. Trotzdem bin ich im mir vertrautesten Freeride Gelände des Trips zwischen Stuben und Warth am Arlberg eher Passagier als Pilot. Auch wenn sich meine Oberschenkelmuskeln offenbar schon in den Feierabend verabschiedet haben und die Sonne nicht ganz so heiter lacht wie die letzten Tage, verlässt uns das Freerider Glück nicht: Richtung Stierloch und Stierfall setzen unsere Guides die ersten Spuren, das erlebt man bei den Klassiker von Zürs nach Zug wohl einmal alle 15 Jahre. Langsam wird es unheimlich, womit habe ich denn das verdient?! Unser letzter, kurzer Anstieg unterhalb des Widdersteins in Warth um hinüber ins Kleinwalsertal zu kommen, könnte wegen mir gerne noch kürzer sein, doch die Abfahrt ist ein krönender Abschluss. Als ich die Fahne der Bärgunt Hütte entdecke, weiß ich, dass wir es geschafft haben, das Abschluss-Bier nahe ist und dass die letzten vier Tage ziemlich einmalig waren. Oder wie unser Guide Michi Bückers auf der Heimfahrt sagt: „Wir können das nie wieder machen, so gut wird es nicht mehr!“