Schwer atmend kämpfen wir uns seit Stunden in stockdunkler Nacht an Fixseilen eine steile, vereiste Felswand hinauf. Die Steigeisen kratzen am Gestein und finden nur schwer Halt. Die Lunge brennt hier oben auf 5.500 Metern und nach jedem zweiten Schritt brauchen wir eine kleine Pause, um zu atmen. Die Fahrräder, welche auf unseren Rucksäcken festgezurrt sind, lassen die Last auf unserem Rücken auf über 20 Kilogramm anschwellen. Die Balance zu halten ist eine weitere Herausforderung in diesen kräftezehrenden Stunden. Aber noch haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben, die größte Hürde auf unserem Weg, den Gondogoro La, zu überwinden.
Als ich vor zwei Jahren mit der konkreten Planung begann, konnte ich nicht wissen, wie hart dieser Aufstieg werden sollte. Rückblickend war das auch gut so. Ich wollte mir einen Jugendtraum erfüllen und den Concordiaplatz im Norden Pakistans besuchen. Er gilt als das Herz des Karakorum. Hier vereinen sich zwei riesige Gletscher: der „Godwin Austen“ und der „Baltoro-Gletscher“. An keinem Ort der Erde stehen mehr 7.000 und 8.000 Meter hohe Berge auf so engem Raum. Unter ihnen auch der Berg der Berge: der K2.
Nach der erfolgreichen Planung begebe ich mich auf die Suche nach Reisegefährten. Mit Jakob Breitwieser finde ich einen motivierten Mountainbiker und mit Martin Bissig den passenden Fotografen und Filmer. Die Reaktionen auf unser Reiseland sind zuhause im Vorfeld oft von Unverständnis und Vorurteilen geprägt. Kein Wunder, in unseren Medien hört man im Zusammenhang mit Pakistan meist nur von Terror und Angst. Bei denjenigen, die das Land aber schon mal besucht hatten, verhält es sich anders: Sie sind begeistert und ermutigen uns.
Mitte August 2019 landen wir mit gemischten Gefühlen in Skardu, dem größten Ort in der Region Baltistan. Gelegen am Zusammenfluss von „Shigar“ und „Indus“, letzterer entspringt in Tibet am heiligen Mt. Kailash, ist die kleine Stadt Ausgangspunkt für alle bergsteigerischen Unternehmungen im Karakorum. Wir sorgen mit unseren Bikes für große Aufregung auf der mit hunderten Läden gesäumten Hauptstraße im Ort. Überall winken uns die Leute zu, bitten uns um gemeinsame Fotos oder kurze Gespräche und laden uns zum Tee ein. Es scheint, als hätte Pakistan mit seinen Bewohnern, mindestens das gleiche Interesse an uns wie wir an ihnen. Mit dieser Herzlichkeit und Gastfreundlichkeit hatten wir nicht gerechnet. Wir sind völlig überwältigt. Nach nur wenigen Stunden in Pakistan hat sich unser Bild des Landes völlig verändert.
In Skardu treffen wir auch unseren Guide für die nächsten zwei Wochen: Isaak, 60 Jahre alt, mit rauschendem Vollbart. Gemeinsam mit ihm werden Details der Reise besprochen. Noch nie hat er Radfahrer auf dem Trek gesehen. Auf unsere Nachfrage, ob er denke, Mountainbiken sei dort möglich, erhalten wir die Auskunft: „ Ja, schon möglich. Inshallah!“ Übersetzt bedeutet es so viel wie: „So Gott will.“ Wir gewöhnen uns schnell an diese Gottgefälligkeit der gläubigen Muslime hier vor Ort. Es relativiert viele Dinge, deren Ausgang man eh nicht vorhersehen kann. Darüber hinaus erkundigen wir uns bei Touristen, welche gerade zurück aus den Bergen kommen, über ihre Einschätzung der Bedingungen. Wir hören die ganze Palette an Möglichkeiten. Von „wir steckten hüfthoch im Schnee“, bis „ihr könnt sicher 70 Prozent fahren“ war alles dabei. Was sollen wir dazu sagen, außer: „Inshallah“!
Zwei Tage lang fahren wir mit einem Jeep zum Startpunkt unserer Mountainbikerunde, dem kleinen Ort Hushe. Jakob wird hier leider von einem Magen-Darm-Virus heimgesucht und liegt flach. Ich rolle mit dem Bike durch das Dorf und werde innerhalb von Minuten zur Hauptattraktion. Die mir nachlaufende Traube von Kindern motiviert mich in meinen Künsten des Trialsports zu kramen. Als ich beginne auf Vorder- und Hinterrad zu hüpfen, Stufen rauf und runter zu springen, gibt es kein Halten mehr in der Menge. Applaus, lautes Anfeuern und unzählige, auf mich gerichtete Handykameras. Noch selten hatte ich ein so begeistertes Publikum.
Wir sind froh unsere Zelte im Garten eines sogenannten Guesthouse als Schlafstätte aufgebaut zu wissen. Denn das Haus ist extrem schmutzig und wir hätten die Nächte dort nicht verbringen wollen. Der eigene Schlafsack ist uns hier lieber. Im dicht bepflanzten Garten treffen wir am Abend die restlichen Teilnehmer der Mannschaft. Fünf weitere Personen sind Teil unserer kleinen Reisegruppe: vier Träger und ein Koch. Allesamt machen sie auf uns einen freundlichen und extrem sportlichen Eindruck. Das Gepäck wird gewogen und gleichmäßig verteilt.
Jakob geht es am nächsten Morgen zum Glück besser und so können wir uns auf die erste Etappe unserer Expedition begeben. Bis zum höchsten Punkt unserer Tour, dem „Gondogor La“ mit 5.650 Meter, haben wir von hier fünf Tage eingeplant. Das Hauptaugenmerk meiner Planung liegt auf der Akklimatisation. Um erfolgreich über den Pass steigen zu können, müssen wir uns langsam an die Höhe anpassen und vor dem entscheidenden Tag topfit sein. Dementsprechend fahren wir gemächlich aus dem Ort hinaus und genießen die ersten Meter auf unseren Rädern. Überraschenderweise ist der Weg flach angelegt und teilweise sogar von Steinen befreit worden. So können wir viel Zeit im Sattel verbringen und bergauf radeln. Die Berge ragen steil wie Pfeilspitzen um uns in den Himmel. Wo wir auch hinblicken, müssen wir den Kopf in den Nacken legen, um die Gipfel der Granit-Riesen sehen zu können. Beeindruckend!
Im ersten Camp auf 3.600 Meter verbrachten wir zwei Nächte, um uns an die Höhe zu gewöhnen. So konnte auch Jakob weiter genesen. Tagsüber war es unerwartet heiß und die Luft extrem trocken. Selbst auf dieser Höhe gab es dichte Vegetation und sogar Bäume. Um der Hitze zu entgehen, starteten wir am dritten Tag bereits um 5.30 Uhr morgens zu unserer nächsten Teilstrecke. An Fahren war hier nicht mehr zu denken. Wir legten die Bikes auf unsere Rucksäcke. Der Pfad führte zu Beginn steil auf eine Gletschermoräne hinauf. Oben wurde es flacher, wir konnten schieben, und arbeiteten uns Stück für Stück weiter empor. Vor uns ragte der 7.800 Meter hohe „Masherbrum“ in den strahlend blauen Himmel. Zu unserer Linken lag der Schutt bedeckte Gletscher. Auf 4.100 Meter erreichten wir die bereits errichteten, leuchtend gelben Zelte und wurden herzlichst empfangen. Die Träger liefen um vieles schneller als wir, im Schnitt brauchten sie nur die Hälfte unserer Zeit. Die jungen Männer waren unglaublich fit, stets gut gelaunt und für jeden Scherz zu begeistern. Auch wenn sie praktisch kein Englisch sprachen, fanden wir immer einen Weg mit ihnen zu kommunizieren und Spaß zu haben. So auch an diesem Abend.
Erneut früher Aufbruch zum Camp vor dem Pass am nächsten Morgen. Auf unsere Frage hin, wie der Weg beschaffen sei, bekamen wir von Isaak, mit einem breiten Grinsen, die uns vom Vortag bereits bekannte Auskunft: „Too easy. No problem. Little biking.“ Nachdem wir aber etwa acht Stunden lang unsere Bikes über einen Gletscher geschoben und getragen hatten, erreichten wir ziemlich müde das Camp auf 4.600 Meter. Erschöpft blickten wir zu Isaak. Auf unsere Anmerkung, dass es heute gar nicht so easy war, erhielten wir mit erneutem Grinsen die aufklärende Antwort: „This is no city, this is mountain adventure.“ Auch wir konnten uns ein Lächeln nicht verkneifen. Für den Rest der Tour sollte das unser Mantra werden: Wir sind nicht in der Stadt. Das ist ein Bergabenteuer! Wir wollten es ja so.
Vor uns lagen nun noch über 1.000 Höhenmeter zur Passhöhe. Um nicht den gesamten Aufstieg mit dem zusätzlichen Gewicht der Räder am Rucksack auf einmal bewältigen zu müssen, nutzten wir den kommenden Tag, um diese auf 5.000 Meter zu deponieren. Ziemlich erschöpft kehrten wir am Nachmittag wieder zurück zu den Zelten. Spannung lag in der Luft. Wird es uns morgen gelingen, mit den Rädern den Pass zu erreichen? In diesem Moment fühlten wir uns gar nicht danach.
Am nächsten Tag packten wir euphorisch unsere Ausrüstung und schmiedeten Pläne: Startzeit heute Abend 21 Uhr. Dann die Nacht durchlaufen und um etwa fünf Uhr morgens die Passhöhe erreichen, bevor die Gruppen von der anderen Seite sich an den dort installierten Fixseilen nach unten bewegten und uns lose Steine auf den Kopf werfen konnten. Sicherheit geht vor Schlaf. Für den Weiterweg zum nächsten Lager rechneten wir mit vier Stunden. Die Ausrüstung war durchaus über dem Standard einer klassischen Mountainbike Tour: Warme Bekleidung für bis zu minus 15 Grad, dicke Bergschuhe, Steigeisen, Wanderstöcke, Stirnlampe, Klettergurt und eine Steigklemme, damit wir uns in den Fixseilen einhängen konnten, um nicht abzustürzen. Das Briefing von Isaak, zu der vor uns liegenden Strecke, fiel heute überraschend aus. Statt des sonst freundlichen „Too easy“ bekamen wir mit ernster Miene die Auskunft: „Not easy. Little hard. But, Inshalla, you can do it.“ Verunsichert sahen wir uns an.
Pünktlich wie geplant, starteten wir dick eingepackt, begleitet von tausenden Sternen. Als wir die Bikes um Mitternacht auf die Rucksäcke luden hatte jeder über 20 Kilogramm Gepäck. Wir stapften langsam und schwer atmend durch die Nacht. Außer unseren eigenen Geräuschen herrschte absolute Stille. Das Gelände wurde immer steiler. Bald war der Untergrund noch dazu vereist. Unsere Steigeisen kamen zum Einsatz. Kurz darauf erreichten wir die Fixseile. Wie ein Geländer schlängelten sie sich nach oben in die finstere Nacht. Wir waren erleichtert uns hier sichern zu können: Klettergurt anziehen, Steigklemme einhängen und weiter ging es. Schritt für Schritt. Langsam. Sehr langsam. Zwischendurch gab es senkrechte Abschnitte, welche wir ohne die Seile sicher nicht hätten überwinden können. Das Gewicht der Räder lastete schwer auf unseren Schultern. Es wurde immer anstrengender, doch wir zogen uns weiter hinauf. Die Zeit kam uns endlos vor, als der Horizont endlich aufhellte und das Gelände flacher wurde. Schließlich waren die ersten Bergsteiger und Träger im Abstieg und kamen uns entgegen. Fragwürdige Blicke trafen uns. Gegen fünf Uhr morgens erreichten wir völlig ausgelaugt die Passhöhe auf 5.650 Meter. Wir fielen uns in die Arme. Der „Gondogoro La“ erstreckte sich vor uns in seiner weißen Pracht. Wir hatten es wirklich geschafft! Die aufsteigende Sonne wurde kräftiger und wärmte unsere durchgefrorenen Körper. Wir gossen uns eine Tasse heißen Tee ein und genossen überwältigt die grandiose Aussicht. Vier der 14 8.000er standen in strahlendem Weiß vor uns: Gasherbrum 1 & 2, Broad Peak und der K2.
Leider mussten wir bald schon wieder aufbrechen, denn der Abstieg war noch lang. Wir traten in die Pedale und fuhren los. Nach 300 Metern war die Abfahrt aber bereits wieder vorbei: Erneut Fixseile. Durch Gletscherspalten hindurch schlängelte sich die seilversicherte Steigspur bergab in ein riesiges Gletscherbecken. Die Bikes schiebend stiegen wir vorsichtig hinunter. Bis zum „Camp Ali“, welches wir um elf Uhr erreichten, fuhren wir keinen Meter mehr. Der Schnee war zu weich geworden in der Hitze des Tages. Zwischendurch brachen wir bis zur Hüfte ein. Das Vorankommen war eine Qual.
Nach einer Tasse Nudelsuppe und einem kurzen Nickerchen beschlossen wir dennoch, den jungen Tag zu nutzen, um weiter zum Concordia Platz zu gelangen. Wie üblich erkundigten wir uns bei Isaack über die Strecke und bekamen erfreulicherweise wieder zu hören: „Too easy. No problem! Biking!“ Diesmal hatte er Recht. Auf dem riesigen Baltoro Gletscher konnten wir biken. Wie Ameisen kamen wir uns angesichts der Dimensionen vor. Praktisch alle umliegenden Berge waren höher als 6.500 Meter. Vor uns thronte der K2 mit 8.611 Metern. Eine wahrlich riesige Berggestalt. Zu seinen Füßen lag der Concordia Platz, der „Thronsaal der Berggötter“, wie ihn ein amerikanischer Journalist nannte. Ihn erreichten wir um 19 Uhr. 22 Stunden waren wir unterwegs gewesen, mit nur zwei Stunden Pause, sicher einer der längsten und anstrengendsten Tage in unserem Leben! Aber auch einer der beeindruckendsten.
Wir hatten großen Respekt vor den Trägern vor Ort, ohne die wohl kaum ein Tourist diese Touren überstehen würde. Mit einem Bruchteil der Ausrüstung, welche wir glaubten zu benötigen, waren sie unterwegs. Viele liefen mit einer Art Gummi-Gartenschuhe tagelang über den Gletscher. Selbst für die steilen, vereisten Passagen am „Gondogoro La“ verwendeten sie keine Bergschuhe oder Steigeisen wie wir. Sie stülpten sich einfach Wollsocken über die Gummischuhe, um auf dem Eis nicht zu rutschen.
Nach nur einem gemütlichen Ruhetag ging es für uns weiter. Wir hatten unser großes Ziel, den Concordia Platz zwar erreicht, aber noch saßen wir auf dem Gletscher in Mitten der Bergriesen. Das Ende unserer Tour befand sich erst in einem kleinen Bergdorf, namens „Askole“. Vier Tage brauchten wir dorthin. Drei Tage stolperten wir mit unseren Fahrrädern, mehr schiebend als fahrend, über den Schutt bedeckten Gletscher, bevor dieser abrupt endete. Danach führte der Weg am Ufer des Gletscherflusses, dem „Braldu“, entlang. Das ständige Auf und Ab, und die Millionen von Steinen, welche das Eis über weite Strecken völlig verdeckten, machten ein Fahren oft unmöglich. Wir hatten inständig gehofft, hier auf mehr fahrbares Gelände zu treffen. Trotzdem genossen wir es, in dieser eindrucksvollen Welt aus Granit und Eis unterwegs sein zu dürfen und freuten uns umso mehr, als wir hier und dort einige hundert Meter fahren konnten. Zu unserem Glück entpuppte sich wenigstens die letzte Tagesetappe als fast durchgehend fahrbar. Die Abende nutzten wir, um unseren Trägern einen Wunsch zu erfüllen: Sie wollten Radfahren lernen. Was für ein Spaß für alle Beteiligten! Und tatsächlich, am Ende der Tour konnte jeder Einzelne von ihnen fahren.
Unsere kleine Abschiedsfeier in Askole war sehr emotional. Alle waren glücklich über den reibungslosen Verlauf der Tour und doch ein bisschen traurig über das Ende der gemeinsamen Zeit. Wir hatten das Gefühl, auch unsere Mannschaft hatte Gefallen an uns und unserer ungewöhnlichen Idee, das große Karakorum Trekking mit den Mountainbikes zu versuchen, gefunden. Und natürlich waren sie begeistert vom Radfahren.
Selbst wenn rückblickend unsere Fahrräder mehr Zeit auf uns verbracht haben, als wir auf ihnen, auch wenn es die wohl anstrengendste Rad-Expedition unseres Lebens war: Wir möchten keine Sekunde davon missen. Wir sind uns sicher, viele der Begegnungen wären nicht so intensiv ausgefallen, hätten wir unsere Fahrräder nicht dabei gehabt. Manchmal habe ich das Gefühl, das Fahrrad ist wie ein Zauberstab, welcher Sprachbarrieren und Berührungsängste auf magische Weise überwinden hilft. Pakistan, wir kommen wieder. „Inshalla“.