„Buen Camino“ in Galizien
Ich stehe auf den großen Platz vor der Kathedrale in Santiago und habe Gänsehaut. Die Musik eines galizischen Dudelsackspielers vermischt sich mit den euphorischen Gesängen einer spanischen Schulklasse. Dazwischen höre ich ein paar abseits stehende Männer leise schluchzen. Eine Gruppe älterer Frauen sitzt andächtig auf dem kalten Steinboden gegenüber der Kathedrale. Wegen des feuchten Klimas in den engen Gassen der mittelalterlichen Altstadt hat es sich Moos an den Fassaden gemütlich gemacht. All das wirkt mystisch auf mich. Die geballte Energie der Wanderer, die tage-, wochen- oder monatelang auf dem Camino unterwegs waren, entlädt sich an diesem Platz. Es ist genau diese Energie, die diesen Weg von anderen Weitwanderpfaden unterscheidet. Ich bin froh, am Ziel angekommen zu sein und genieße die Szenerie.
Der Charme Galiziens
Doch bevor man die magische Atmosphäre in Santiago genießen kann, muss man die letzten Etappen durch Galizien wandern. Anders als man es aus sonnigen Spanien Urlauben kennt, ist das Wetter dort ruppiger. Man muss mit viel Regen und im Herbst oder Frühjahr sogar mit Schnee rechnen. Der Weg führt durch kleine Dörfer, die hauptsächlich von der Landwirtschaft und den Pilgerreisenden leben. Kleine Bars und urige Cafés säumen den Weg. Alte Männer sitzen an der Bar, trinken vino tinto und diskutieren. Kornspeicher, die den Mais vor Mäusen schützen sowie Scheunen, voll mit landwirtschaftlichen Geräten, trotzen dem harschen Wetter und ihrem hohen Alter. Die Menschen arbeiten draußen auf dem Feld und legen Gemüsebeete an. Ich grüße sie freundlich und sie antworten mit einem „guten Weg“ - „buen camino“. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein.
Der Mythos Camino
Das wohltuende „buen camino“ begleitet mich den ganzen Tag. Neben mir läuft eine spanische Schulklasse und vor mir humpeln vereinzelte Pilger mit großen Rucksäcken die letzten Kilometer nach Santiago. Sie scheinen schon länger auf dem Camino unterwegs zu sein. Ihr unrundes Laufen und das seitliche Torkeln verrät, dass sie Schmerzen haben, doch ihr Wille nach Santiago zu kommen ist stärker. Ich bin Ende März unterwegs, es ist noch relativ ruhig auf dem Camino. Die Hochzeit der Pilgersaison ist erst im Sommer, zwischen Juni und September. Rund 300.000 Menschen erhalten jährlich das „Compostela“, das Pilger-Zertifikat. Nur wer mindestens über 100 Kilometer wandert oder 200 Kilometer Fahrrad fährt, darf sich über eine Urkunde freuen. Ein Großteil der Pilger bestreitet den Weg klassisch zu Fuß, nur sieben Prozent pilgern mit dem Fahrrad. Als Teil einer Gruppe mit Menschen aus zehn verschiedenen Ländern bin ich im Rahmen des Gore-Tex Long Distance Hikes, zu dem ich eingeladen wurde, die letzten 52,67 Kilometer nach Santiago gewandert. Obwohl wir nicht das Abzeichen bekommen haben, hat jeder seine eigenen Pilger-Geschichten erlebt, wie schon vor 1000 Jahren.
Ich frage mich, wie dieser ehrwürdige Weg vor 1000 Jahren wohl ausgesehen hat? Klar ist, dass jeder Wanderer seine eigene Geschichte mitbringt und ein Teil des Mythos vom Camino wird. Egal ob man den Weg aus religiösen oder aus persönlichen Gründen läuft, die Kraft des Weges ergreift jeden. Der eintönige Rhythmus des Wanderns verändert die Gedanken und liefert Antworten auf Fragen, die man sich nie gestellt hat.
Die Menschen machen den Weg
Auf dem Weg treffe ich zum Beispiel Hipólito, er ist Anfang 30 und aus Galizien. Obwohl er Volkswirtschaft studiert hat, ist er momentan arbeitslos und läuft daher den Camino. Wir fangen an uns zu unterhalten und er erzählt mir von seiner Familie. Er hat seine Eltern vor einigen Jahren verloren. Anstatt sich über seine schwierige Situation zu beklagen, erzählt er mir von seiner großen Liebe, die er kurz nach dem Tod seiner Eltern kennen gelernt hat. Nun lebt er schon seit zwei Jahren mit ihr zusammen und wünscht sich Kinder mit ihr: „My wife – my life!“, „meine Frau, mein Leben“. Er erzählt mir, dass er auf dem Weg zum Nachdenken gekommen ist. Er hat realisiert, wie viel er in den letzten Jahren erlebt hat, positiv wie negativ. Das Wichtigste ist für ihn sich auf die positiven Dinge zu stützen. Beim Verabschieden verspricht er mir noch, dass er seinen zweiten Sohn nach mir benennen wird. Den ersten Sohn benennt er nämlich schon nach sich.
Die Zusammenkunft mit den Menschen hat mir gezeigt, wie vielseitig der Weg ist. Jeder hat seine eigene Geschichte und seine eigenen Gründe, warum er den Weg läuft. Viele wollen eine Auszeit und den Kopf frei bekommen, andere laufen ihn aus religiösen Gründen. Dabei ist es ganz egal, ob man nur ein paar Tage unterwegs ist oder mehrere Monate. Man spürt die Kraft des Weges sofort und hat ein gemeinsames Ziel vor Augen: die Ankunft in Santiago.
Fotos: © Jonas Stuck, W.L. Gore & Associates