Für sportinteressierte Menschen haben manche Plätze eine legendäre Aura. Sie gleichen Wallfahrtsorten, zu denen jede und jeder, die oder der eine bestimmten Disziplin seine Leidenschaft nennt, einmal im Leben pilgern muss. Für Motorsportfans ist es der Nürburgring, für Fußballfanatiker das Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro. Beim Skifahren ist der Arlberg so ein Ort. Das Bergmassiv zwischen Vorarlberg und Tirol ist nämlich nicht nur dafür bekannt, das größte zusammenhängende Skigebiet Österreichs zu beherbergen, sondern Skifans kennen es auch, wegen seiner Historie.
Wer hat das Skifahren erfunden?
Die Tourismusregion nennt sich ganz selbstbewusst: Wiege des alpinen Skilaufs. WER den Sport mit den zwei Brettern an den Füßen WANN erfunden hat, wird immer wieder leidenschaftlich diskutiert: Höhlenzeichnungen verraten, dass sich sowohl Schweden und Norweger, als auch Mongolen schon vor mehreren tausend Jahren mit einer Art Ski fortbewegt haben. Unstrittig ist aber, dass die Menschen am Arlberg einen entscheidenden Teil dazu beitrugen, Skifahren als Sport und Freizeitbeschäftigung in den Alpen gesellschaftsfähig zu machen. Wenn es um Skigeschichte am Arlberg geht, dann ist meist vom Örtchen Stuben und Hannes Schneider, dem Gründer der ersten Skischule Österreichs die Rede. Doch Kaddi Kestler hat sich diesmal auf die Spuren eines anderen, nicht ganz so bekannten Skipioniers vom Arlberg begeben: In Warth-Schröcken ist sie die Ausflüge von Pfarrer Müller nachgefahren. Ende des 18. Jahrhunderts war er der erste Skifahrer in dem kleinen Ort.
„Ein guter Freund von uns ist in der Klemm, im Gamsloch in einer Lawine ums Leben gekommen. Der Wilfried war Bergführer, also richtig erfahren, ein super Typ und sehr angenehmer Mensch. Den hast du immer fragen können, wenn du was gebraucht hast. Deshalb ist die Tour für mich besonders, weil man nie vergessen darf, dass immer etwas passieren kann. Wir haben eine Gedenktafel aufgestellt, an der kommen wir später vorbei. Da geh ich immer hin, klopf zweimal drauf – das ist ein Ritual von mir. Das gibt mir auch recht viel, es holt einen oft wieder zurück, weil man den Bogen einfach nicht überspannen darf.“
Diese Geschichte, die mir der Warther Skischulinhaber Marcel Fetz im Lift erzählt, passt nicht zum perfekten Start unseres Skitags in Warth-Schröcken – und gleichzeitig zeigt sie mir, wie dankbar ich dafür sein muss. Die Sonne am stahlblauen Himmel erledigt ihren Job schon um kurz nach acht am Morgen viel zu ehrgeizig. Sie brutzelt auf unsere Nasen, während wir im Sessellift von 1.500 Metern hinauf Richtung Warther Horn gondeln. Bis zur Stelle an der Wilfried verunglückt ist, ist es noch weit. Noch ist kein Mensch unterwegs. Unter uns glitzern die frisch gewalzten Pisten. Wie verlockend wäre es doch ihre unberührte Perfektion mit unseren Kanten bei den ersten Schwüngen des Tages zu verzieren. Doch unser Plan ist ein anderer: Mit Hilfe von Liften, Gondeln und Tourenski wollen wir über Pisten und durchs Gelände von Warth nach Lech und von dort zurück nach Schröcken. Endlich hat es genug Schnee und – hoffentlich – sichere Bedingungen für die sogenannte Pfarrer Müller Tour, wohl eine der ersten Skitouren, die jemals gegangen wurden.
Der Skipionier Pfarrer Müller
Pfarrer Müller lebte um 1900 in Warth. Damals war das Leben in dem Bergort sehr beschwerlich: kein Tourismus, nur Landwirtschaft und jede Menge Schnee, der ein Fortbewegen im Winter beschwerlich machte. Pfarrer Müller soll in einer Zeitung gelesen haben, dass die Menschen in Norwegen mit Holzbretter unter den Füßen dahingleiten und er hat es kurzerhand selbst ausprobiert, erzählt mir Marcel:
„Zuerst im Dunkeln hinterm Pfarrhof und dann ist er mit den Ski durchs Tannberggebiet rüber gewechselt nach Lech um sich auszutauschen und Freunde zu treffen. Wie es halt heute auch noch ist beim Skifahren.“
Die Pfarrer Müller Tour ist eine Freeride-Tour zurück in die Vergangenheit. In eine Vergangenheit, in der die Gemeinde Schröcken auf 1.296 Metern und der Ort Warth gut 200 Meter höher noch keine gemeinsamen Pisten hatte. In eine Zeit, in der der Arlberg noch kein erschlossenes Skigebiet der Superlative war. Lifte wie den Steffisalp- und Waltherhorn-Express, die wir gerade schon genommen haben, gab es natürlich auch noch nicht. Wir ziehen die Felle auf und nehmen den ersten Aufstieg der Tour in Angriff: Unser Ziel ist der Wartherhorn Sattel zwischen Karhorn Gipfel und Wartherhorn Gipfel – circa 150 Höhenmeter, spätestens in einer halben Stunde sollten wir oben sein.
Die höchstgelegene Walsersiedlung Vorarlbergs
Vor 700 Jahren besiedelten Walser die Region am Tannbergpass. Sie führten ein karges und entbehrungsreiches Leben als Bergbauern und lebten von Viehzucht und Milchwirtschaft. Ihre Spuren sehen wir bei unserer ersten Gelände Abfahrt vom Wartherhorn Sattel Richtung Lech. Auf 1.719 Metern passieren wir die verlassene Siedlung Bürstegg. Der Name leitet sich ab vom alpinen Borstgras, das in den umliegenden Sumpfgebieten wuchs. Im Volksmund „Burst“ oder „Bürstl“ genannt. Da hier, ein gutes Stück über der Waldgrenze, kein Brennholz verfügbar war, wurde früher rings um Bürstegg Torf gestochen. Im 19. Jahrhundert lebten in der höchstgelegenen Walsersiedlung Vorarlbergs 13 Familien, heute kann ich im Vorbeifahren noch sechs Häuser zählen, von denen die meisten eher Ställen oder Scheunen gleichen – aber auch eine kleine Kirche. Pfarrer Müller ist auf seinen Touren hier auch vorbei gekommen. Nur hatte er keinen leichten, breiten Hightech-Ski mit Stahlkante und perfekt auf seine Füße angepasste Skischuhe.
Die Entstehung des Skitourismus in Warth-Schröcken
In den 1930er Jahren erkannte man in Warth-Schröcken langsam, dass Schnee und Kälte, die eigentlich das Leben erschwerten, Versorgungswege abschnitten und Vieh erfrieren ließen, auch eine Geldquelle sein konnten. Mit durchschnittlich elf Metern pro Saison bekommt Warth-Schröcken überdurchschnittlich viel Schnee ab und gilt als eine der schneereichsten Regionen Europas. Verantwortlich dafür ist die bei Nordweststau günstige Lage zwischen Bregenzerwald, Lechtaler- und Allgäuer Alpen und dem Arlberggebiet. Trotzdem haben nicht die Schneemassen, sondern vor allem ein wachsender Sommertourismus den Winter Gästen den Weg bereitet – oder besser gesagt: ihre Betten gewärmt. 1928 eröffnete das Hotel Biberkopf und lud auch im Winter ein, denn es war das erste Hotel mit einer Zentralheizung. Bis zum Bau des ersten Lifts dauerte es noch bis 1953. Heute stehen am Arlberg 88 Lifte und Bahnen.
Vom Geißbachtobel Richtung Klemm
Wo wir sind, steht kein Lift und keine Bahn. Bis in den Geißbachtobel ist das Skigebiet nicht vorgedrungen – zumindest bis jetzt. Ein Winterwunderland wie aus dem Bilderbuch. Nur die für die Jahreszeit zu warmen Temperaturen, die wir hier auf der Südseite voll zu spüren bekommen, kratzen etwas am Idealbild. Wir ziehen ein weiteres mal die Felle auf die Ski, während wir unsere frischen Spuren hinab vom Warthersattel begutachten.
„Wenn ich das mit meinen Gästen fahre und hier stehe und zurückschaue, dann merkst du immer, dass sie richtig stolz sind. Sie schwitzen zwar wie die Esel, aber jetzt haben wir was geschafft, wir haben was erreicht, wir waren da oben und sind jetzt da.“
Während Marcel von den Touren mit seinen Gästen berichtet, steigen wir nur gut 50 Höhenmeter auf und fahren hinab nach Stubenbach, einen Ortsteil von Lech. Dort kommt der Bus und bringt uns in nur fünf Minuten ins Zentrum des international bekannten Wintersportorts Lech.
Von dort nehmen wir zwei Lifte, eine kurze Pistenabfahrt, und wieder einen Lift. Pfarrer Müller wäre vielleicht entsetzt – oder einfach nur neidisch. Und ich bin ehrfürchtig. Denn wir nähern uns der berühmten Klemm, dem Teil der Runde, wo Marcels Freund Wilfried verunglückt ist.
„Die Klemm ist landschaftlich gewaltig. Sie hat etwas Mystisches, weil sie komplett nordseitig ist: Keine Sonne, nur Felswände und Eiszapfen. Das ist schon beeindruckend. Aber die Leute haben keinen Respekt mehr, denn das Material kann ja alles, die Spuren sind da, und dann fährt man ihnen einfach nach. Wir hatten hier die letzten Jahre echt blöde Unfälle gehabt.“
Wie unverantwortlich, unverständlich sich so in Gefahr zu bringen, könnte man meinen. Was treibt uns an? Die Suche nach dem perfekten Tiefschneehang? Das berauschende Gefühl, wenn man die erste Linie in jungfräulichen Tiefschnee zieht? So ausgelutscht das Bild, so groß die Emotion. Wer es nicht erlebt hat, wird es nie verstehen. Die Lawinengefahr studiert man, analysiert man, minimiert man. Für den Notfall trainiert man. Das Restrisiko verdrängt man. Sonst… tut man es nicht.
Meine Gedanken kreisen, während wir vom Steinmähderlift links weg seitlich mit den Ski unterhalb der Mohnenfluh zur Scharte hinauf steigen. So kommen wir zur Gedenktafel für Wilfried. Von hier startete er seine letzte Abfahrt, ein paar Meter tiefer wurde er von der Lawine verschüttet und starb.
„Seit Winfrieds Unfall 2016 gehe ich immer hierher, klopfe zweimal drauf und dann gehts los,“ erzähl Marcel.Wir fahren allerdings nicht direkt in die berühmte Klemm ab, sondern nehmen noch ein paar mehr Höhenmeter unangenehme Schrägquerung in Kauf. Auf der Suche nach NOCH besserem, noch weicherem, noch unverspurterem Schnee. Ob Pfarrer Müller unsere freiwilligen Zusatzmühen verstanden hätte? Ob er auch irgendwann süchtig wurde, nach der Droge Tiefschnee? Eigentlich ging es ihm bei seinen Ski Ausflügen darum, im Winter Kontakt zu halten, wenn die Ortschaften durch den Schnee voneinander getrennt waren. Ihm ging es um Gemeinschaft – und nicht um egoistischen Spaß. Ganz im Gegensatz zu vielen Pulverschnee-Verrückten war seine Einstellung so gar nicht: „No friends on powder days.“
Weitblick bis zur Zugspitze und zum Bodensee
Oben angekommen, am Fernerkar, erschließt sich beim Blick auf die andere Seite der volle Reiz der Pfarrer Müller Tour: Ein 360 Grad Ausblick von der Braunalspitze über den Diedamskopf im Bregenzerwald bis zum Biberkopf im Oberallgäu und die Wetterspitze im Lechtal und bis zur Valluga im Alberggebiet. Sogar die Zugspitze lugt weit in der Ferne hervor, und noch einer…
„Da hinten sieht man den Bodensee. Gewaltig, oder? Diesen Ausblick kann jeder erreichen. Da musst du konditionell keine Wildsau sein. Und von dem Panorama lebt man dann wieder ein Jahr. Man meint, man ist nicht im Skigebiet, sondern es wirkt richtig alpin. Jetzt sind wir da eine kurze Zeit weg und wir sind komplett in der Pampa , weit weg vom Trubel. Und das kommt immer mehr. Die Gäste wollen weg. Weg von der Liftstation. Sie wollen nicht, dass man sich gegenseitig auf den Ski umeinander trampelt.“
Das wars mit Aufstieg für heute. Ab jetzt geht es nur noch bergab. Unter uns lockt ein langes, breites und komplett unverspurtes Tiefschneefeld. Doch da müssen wir erstmal hinkommen. Der Einstieg schaut nicht sonderlich einladend aus. Marcel rutscht als Erster über die steile, vereiste Flanke hinunter – schlängelt sich an den vielen Steinen, die aus dem Eis spitzen vorbei. Er fragt mich, ob ich mich unwohl fühle und ich verneine. Ganz ehrlich bin ich nicht, schließlich habe ich immer noch Wilfried im Hinterkopf. Doch bei den ersten Schwüngen im Tiefschnee sind meine Bedenken schnell vergessen. Da ist es wieder, dieses Gefühl zu fliegen – für das man all die Strapazen und sogar die Gefahr in Kauf nimmt. Obwohl es heute recht warm war, ist der Schnee weich, fluffig und mühelos zu fahren, wie am ersten Tag nach dem Schneefall. Der schattige Nordhang mit den Felswänden im Hintergrund konserviert den Pulverschnee wie ein Kühlschrank.
Als wir im Talboden angekommen über einen Bach steigen, kann ich nicht aufhören zurückzuschauen auf die steilen Hänge, die schattigen Wände, die schwarzen Felsen und eingefrorenen Wasserfälle. Hier ist weit und breit nichts zu sehen vom größten Skigebiet Österreichs. Von beheizten Sesselliften, Pistenbegrenzungen und Après Ski Gaudi. Nur wilde Natur, die einen ganz gern mal daran erinnert, dass sie hier die Chefin ist. Egal wie gut du dich auskennst, egal wie erfahren du bist. Momente, die mich an das große Ganze glauben lassen. Manche nennen es Gott. Ob es Pfarrer Müller 1894 wohl ähnlich ging?
Die Variante der Pfarrer Müller Tour, die wir in diesem Artikel gefahren sind, hat knapp 30 Kilometer und gut 2.600 Höhenmeter. Wobei der größte Anteil der Höhenmeter per Lift und Bus zurück gelegt werden. Die selbst verdienten Höhenmeter kann man je nach Lust und Laune variieren. Wir sind circa 500 Höhenmeter aufgestiegen.
Die Abfahrt auf der Mohnenfluh-Nordseite ist felsdurchsetzt, windanfällig und lawinengefährdet. Ihr solltet euch entweder sehr gut auskennen und über entsprechende Lawinenausbildung verfügen, oder noch besser, einen Guide buchen. Zum Beispiel in Marcels Skischule.