Ein Himmel aus Zuckerwatte. Schnee wie Mandelsorbet. Und ich als fliederfarbener Marshmallow genau dazwischen. Die Sonne brutzelt trotz des Zuckerwatte-Schleiers erbarmungslos auf unsere Mützen. „Ich bin‘s, der Frühling, bald bin ich hier wieder an der Macht!“ flüstern mir die Strahlen leise zu.
Doch noch ist er nicht ganz da der Frühling. Noch hält er sich der Winter tapfer, hoch oben und weit hinten in den Tälern. Noch wird es dauern, ein paar Wochen, vielleicht einen Monat, bis sich die Strahlen so lange durch die Zuckerwatte gekämpft haben, dass vom Mandelsorbet nichts mehr übrig ist. Doch bis dahin ist die allerschönste Zeit zum Skifahren, erst recht zum Touren gehen. Je älter ich werde, desto klarer sehe ich das: Nichts ist so schön, wie Skifahren im Frühjahr. Wenn unten die Krokusse blühen und oben der Firn lockt. Und manchmal auch spät im Frühjahr sogar noch ein bisschen Powder in schattigen Nordhängen wartet. Wie ein Geschenk, für die, die ihre Touren schlau planen, früh aufstehen und weit aufsteigen. Kann es überhaupt eine schönere Belohnung gehen? Das fliederfarbene Marshmallow schüttelt den Kopf, und geht weiter.
Fast drei Meter Schnee liegen jetzt im März hier noch, das hat Fotograf Jens und mir unser Bergführer Ludwig Gorfer bei unserem ersten Treffen gestern Abend verraten. Und er hat gesagt: Wer im Vinschgau Frühjahrstouren gehen will, der sollte sich auf lange Anstiege jenseits der 1.000 Höhenmeter einstellen. Ludwig führt kaum noch Gäste, meist kümmert er sich im Schnalstal um die Lawinensicherheit. Heute hat er für uns den 2.896 Meter hohen Grionkopf in der Sesvenna Gruppe im Oberen Vinschgau ausgesucht. Mit ihren 1.050 Höhenmetern und knapp 12 Kilometern ist sie eine der kürzeren und mittelschweren Touren hier.
Wir starten am Weiler Rojen auf 1.970 Metern, einem der höchstgelegenen ganzjährig bewohnten Weiler der Alpen – von hier hat man auch Zugang zum Skigebiet Schöneben. Doch das lassen wir hinter uns und laufen uns auf einem leicht ansteigenden Skiweg vorbei an Almhütten ein, bevor wir an der Eggeralm in steileres Muldengelände abbiegen. Bei ungünstigen Lawinenverhältnissen ist die Engstelle am Ende des Skiwegs und der Übergang ins Muldengelände des rechts abzweigenden Griontals mit Vorsicht zu genießen. Doch die Lawinensituation wird uns heute kein Kopfzerbrechen bereiten. Heikler erscheint die Frage, wo wir noch unverspurten Abfahrtsspaß finden. Die Hänge, die uns links und rechts entgegenlachen, versprechen ohne Frage verspieltes und abwechslungsreiches Abfahrtsvergnügen, doch sind sie bereits mit zahlreichen Spuren verziert. Und dort, wo die Schneedecke noch völlig unversehrt lockt, da gibt es meist einen guten Grund aka „Deckel“ – das haben wir durch den routinierten Stockeinsatz im Vorbeigehen herausgefunden. Das Vinschgau war noch vor wenigen Jahren ein Geheimtipp unter Tourengeherinnen und Tourengehern – diese Zeiten sind offensichtlich vorbei. Nur mit Kreativität haben wir noch einen Parkplatz am Weiler Rojen gefunden, während des Aufstiegs sehen wir weiter oben im Hang immer wieder kleine Gruppen von Tourengehern – ein paar Mal werden wir überholt. Doch Ludwig hat Jens und mir gestern Abend gesagt: Wer sich auskennt oder ein wenig informiert, sinnvoll plant und bereit ist ein paar Meter mehr aufzusteigen, wird mit einsamen Abfahrten belohnt – auch weil das Vinschgau so viele, ja unzählige Skiberge und Varianten bietet, dass sie keinesfalls alle überlaufen sein können. Heute hat uns die Zuckerwatte am Himmel, die drohte sich zu dunklen Wolkenbergen aufzutürmen, zu einer etwas zurückhaltenderen Tourenplanung gezwungen. Und dem Grionkopf eilt zudem der gute Ruf voraus, die Schneequalität sehr lange zu erhalten …
Wir haben Glück, die Zuckerwatte bleibt Zuckerwatte – und wir haben einen fantastischen Rundumblick auf unserem Aussichtsgipfel, dem Grionkopf an der Grenze zum Unterengadin. Den Spuren tief unter uns folgend, die Tourengeherinnen und Tourengeher auf dem Weg von oder zu Sesvanna Hütte hinterlassen haben, schweift unser Blick weit in die Schweiz hinein. Die markanten Berge rund um den Ortler können wir gut erkennen. In nördlicher Richtung blicken wir bis nach Tirol, während sich östlich die Berggipfel um die markante, komplett von Gletschern umgegebene Weißkugel präsentieren. In unmittelbarer Nähe sind die Gipfel des Zehnerkopfs (2.675 m) und der Elferspitze (2.926 m) im Rojental deutlich sichtbar.
„Und wo kosten wir nun das Mandelsorbet?“, frage ich. Jens schaut mich irritiert an, während er die Kamera in seinem Rucksack verstaut. Ich kicher‘ über meinen geheimen Schnee-Mandelsorbet-Vergleich und fahre Ludwig hinterher, dem heute alles etwas zu lange dauert, mit diesem Fotografen, der ständig stehen bleibt, weil er überall schöne Motive und Perspektiven entdeckt. Wie die meisten Guides, ist Ludwig bemüht trotz der limitierenden Verhältnisse die perfekte Abfahrfts-Line für uns (und unsere Fotos) zu finden. Und so versuchen wir unser Firnglück erst in kleinen Rinnen und Mulden weit links im Hang, bevor wir auf die steilere, rechte Bachseite queren, die nur bei sicheren Lawinenverhältnissen befahren werden sollte. Das Mandelsorbet schmiert um unsere Knöchel so wie es sich für ordentlichen Frühjahrsschnee gehört. Die Zuckerwatte beschließt unsere Performance aus der Nähe zu betrachten, und umhüllt uns wenige Minuten später komplett. Ich strecke die Zunge aus, fahre mir über die Lippen, wohlwissend dass der pappig süße Geschmack ausbleibt und ich stattdessen nur meinen salzigen Aufstiegsschweiß schmecken werde. Wir warten immer wieder bis die Zuckerwatte einen Sonnenfleckchen freigibt und arbeiten uns so langsam den Hang erst links, dann rechts der Aufstiegsspur hinunter.
An Tag zwei unseres Vinschgau-Trips strahlt mir Jens‘ hochroter Kopf beim Frühstück entgegen, er klagt über Kopfschmerzen und Übelkeit. Trotz trügerischer Zuckerwatte hat die motivierte Frühjahrsonne ihm gestern offenbar einen Sonnenstich verpasst, der ihn heute zum Aussetzen zwingt. Ludwig sammelt mich am Hotel in Burgeis ein und wir fahren ins Langtauferer Tal. Erst steil und tief eingeschnitten formt sich das Tal wenig später zu einem weiten Boden umgeben von den Ötztaler Alpen. Wir parken am ursprünglichen, weil von Seilbahnen und großen Hotels verschonten Weiler Melag auf 1.920 Metern. Auf einem präparierten Winterwanderweg gewinnen wir kaum Höhe, bis wir an der Melager Alm ankommen, die für ihren Kuchen berühmt ist. Den gönnen wir uns aber erst später. Es schneit leicht aus tiefhängenden Wolken, doch der Himmel soll im Laufe des Tages aufklaren. Wahrhaftige Prozessionen machen sich mit uns gemeinsam auf den Weg – manch eine und einer mit Gurt und Gletscherausrüstung.
25 Gipfel können vom Langtauferer Tal aus bestiegen werden, die meisten über 3.000 Meter, darunter 15 Klassiker. Der beliebteste ist eine Dame: Die 3.738 Meter hohe Weißkugel, die den Langtauferer Ferner speist. Aufgrund ihrer zentralen Lage bietet die Weißkugel einen der umfassendsten Panoramablicke der Alpen, laut Ludwig ist sie der meistbestiegene Berg der Ostalpen. Gleich neben der Weißkugel lockt die Weißseespitze (3.498 m), die auch die „Königin des Kaunertals“ genannt wird. Sie nährt den Gepatschferner, der mit dem Langtauferer Ferner und dem Weißseeferner verbunden ist, und zusammen mit dem Kesselwandferner mit 18 Quadratkilometern die größte zusammenhängende Gletscherfläche Österreichs bildet. Aber natürlich schmelzen im Zuge der Klimakrise auch die Gletscher hier an der Grenze zwischen Südtirol und Tirol. Wir passieren die Schilder des Gletscherlehrpfads, der von der Melager Alm bis zur Weißkugelhütte führt und über den Gletscherschwund informiert. Die Weißkugelhütte selbst steht an einer steilen Moräne und der Übergang zum Gletscher gestaltet sich immer schwieriger, erzählt mir Ludwig. Seit Jahren ist der Neubau der renovierungsbedürftigen Hütte auf der anderen Talseite geplant, doch während der Corona Pandemie kam das Projekt zum Erliegen.
Wir reihen uns ein zwischen die Tourengeher und Tourengeherinnen, die sich nach der Melager Alm rechts den Berg hinaufschlängeln. Lang hält es Ludwig nicht aus im Gänsemarsch der ausgetretenen Spur zu folgen und ständig Fragen danach zu beantworten, wo er mit mir denn hinwolle. Der eine oder die andere erhoffen sich wohl einen Geheimtipp von dem Menschen mit dem Bergführerabzeichen. Bald schert Ludwig aus, geht weiter geradeaus, statt den rechts hinaufführenden Serpentinen nach und wählt seine eigene Spur einen etwas nach links versetzten Bergrücken hinauf. Das Geschnatter verhallt leise hinter uns und wir sind allein. Ab und an können wir rechts von unserem Rücken hinunter und hinüber zu den anderen blicken, die Richtung Valbenairspitze (3.199 m) aufsteigen, während wir auf den Roten Kopf (3.246 m) zusteuern.
„Eigentlich wäre die Tour mit diesem Gipfelnamen doch heute genau richtig für Jens gewesen“, denke ich schelmisch und grinse in mich hinein. Schade, dass der Mann mit der Kamera und dem guten Auge die heutigen Ausblicke, Weitblicke und Details verpasst. Der Schnee des Nordhangs glitzernd uns vielversprechend weich und unverspurt entgegen. Wenn wir den Blick nach links über das kupierte Gelände schweifen lassen, sehen wir ins Tal hinein an dessen Ende das Eis des Gletscherplateaus in der Sonne glänzt. Wir beobachten eine Gruppe Tourengeherinnen jauchzend die Tiefschneeabfahrt genießen, und loben uns beim Zusammentreffen kurz danach gegenseitig für unsere schlaue, „heute genau richtige“ Tourenauswahl. Sonst sehen wir kaum jemanden. Da wir die letzten knapp 200 Höhenmeter zum Roten Kopf kletternd und ohne Ski zurücklegen müssten, machen wir uns bereits nach knapp 1.200 Höhenmetern in der Planeil Scharte abfahrbereit. Und es tritt ein, was Ludwig versprochen hat – die Abfahrt hinunter bis in den Talboden belohnt uns mit wunderbar weichem Frühjahrs-Powder. Zugegeben: Je tiefer wir kommen, desto schwerer wird er – doch der im Frühling fast immer anstehende Kampf, am Ende Tour, zwischen Bäumen und Büschen genug fahrbaren Schnee zu finden und möglichst ohne Kreuzbandriss wieder rauszukommen, bleibt aus. Auf dem Weg zurück zur Melager Alm am Gletscherlehrpfad entlang müssen wir ab und an ein wenig hochsteigen und beherzt anschieben, weil wir uns keinen einzigen Abfahrtsmeter entgehen lassen wollten. Tourengeher, die wir weiter hinten im Tal im vergletscherten Gelände beobachten konnten, stoßen zu uns – in ihren Gesichtern die gleichen Pulverschneelächeln wie in unseren. Den Kuchen, in der mit glücklichen Tourengeherinnen und Tourengehern vollgestopften Melager Alm, haben wir nach dieser Abfahrtsbelohnung eigentlich gar nicht verdient – doch wir gönnen ihn uns trotzdem!
Wenn euch die Tour zur Planeil-Scharte interessiert, schaut bei Outville auf Instagram vorbei! Dort findet ihr ein Story-Highlight dazu.
Als wir am Abend zurück im Vier-Sterne-Hotel Mohrenwirt in Burgeis beim Glas Wein zusammen sitzen, schwärme ich Jens von meinem Tag vor: Vom perfekt kupierten Gelände mit genau dem richtigen Gefälle, vom trotz der hohen Temperaturen im Tal in den Nordhängen konservierten Power und von den unzähligen Möglichkeiten, die es noch gäbe, würden wir länger bleiben. Zwei, drei, vier, fünf Tage, mir würde allein an dieser Bergflanke im Langtauferer Tal nicht langweilig werden. Und es gibt noch so viele Ecken im Vinschgau, die ich an diesem Wochenende nicht kennenlernen durfte. Ich komme wieder, das ist klar.
Südtirol hat an empfehlenswerten Hotels eher ein Über- als ein Unterangebot. Wir waren auf unserer Reise im Vier-Sterne-Hotel Mohrenwirt in Burgeis untergebracht. Schon seit 1665 übernachten Reisende in dem Haus das Tradition und Moderne nicht nur architektonisch verbindet, sondern auch in der Küche und auf der Weinkarte zusammenbringt. Seit 13 Generationen ist die Familie Theiner Gastgeber. Der Senior Chef wuselt gerne geschäftig durchs Haus und erzählt Geschichte von früher. Zwei Pools, ein Wellness Bereich mit Sauna, Whirlpool und Massage Angebot, außerdem Yoga und Fitness Möglichkeiten machen das Hotel für Tourengeherinnen und Tourengeher attraktiv.
Nur zur Sicherheit: Im Gebirge hat die Sonne auch bei Bewölkung sehr viel Kraft, vor allem im Frühjahr. Also immer eincremen, Sonnenschutzfaktor 50 und eine Kappe auf den Kopf! Viel trinken nicht vergessen, vor allem wenn ihr bei warmen Frühjahrstouren viel schwitzt. Dann geht es euch nicht wie Rotkopf Jens. ;-)