Mein Bruder läuft langsam vor mir. Er setzt einen Fuß vor den anderen, schnauft heftig und stützt seine Arme auf die Oberschenkel auf. Sein Kreislauf lässt ihn langsam im Stich und er stöhnt: „Ist doch alles scheiße hier!“. Wir sind kurz vor dem höchsten Punkt des Tages und dieser letzte Anstieg hat es wirklich in sich: 500 Höhenmeter in weniger als zwei Kilometern. Da kann die Kondition schon mal nachlassen. Wir reduzieren sofort unser Tempo und versuchen irgendwie den Gipfel Plose auf 2.562 Meter zu erreichen. Das langsamere Tempo hilft uns und das Gipfelkreuz rückt immer näher. Und dann ist es soweit: Wir haben es geschafft! Unser erster gemeinsamer Gipfel, den wir als Trail Running Team bestiegen haben. Glücksgefühle mischen sich mit Adrenalin und die Strapazen vom Aufstieg sind schnell vergessen.
Die Selbstzweifel blieben jedoch weiterhin in unseren Köpfen, schließlich hatten wir nur drei Monate Zeit uns auf GORE-TEX Run2 vorzubereiten. Wenn wir schon Probleme bei einem 20 Kilometer Trainingslauf haben, wie sollten wir dann das Rennen überleben? War es wirklich eine gute Idee sich dafür anzumelden oder hätten wir lieber auf die vielen Freunde hören sollten, die uns für verrückt erklärt haben? Wie der Name verrät, werden beim Run2 die ersten beiden Etappen des GORE-TEX Transalpine Runs gelaufen. Genauer gesagt sind das 70,8 Kilometer und fast 4.000 Höhenmeter Aufstieg innerhalb von zwei Tagen. Gelaufen wird immer im Zweierteam. Nur wenn beide Läufer mit maximal zehn Sekunden Unterschied die Ziellinie überqueren, wird der Lauf gewertet.
Höhentraining am Kreuzberg in Berlin
Klar, dass ich bei so einem Lauf mitmachen wollte! Als ich meinem Bruder David von dem Vorhaben erzählte war er sofort Feuer und Flamme. Das einzige Problem: Er war noch nie länger als fünf Kilometer joggen und unsere Vorbereitungszeit war sehr knapp bemessen. Gleichzeitig arbeiten wir beide Vollzeit im Büro, sodass wir unsere Trainingseinheiten mit viel Planung in unseren Arbeitsalltag integrieren mussten. Unsere Begeisterung sollte das jedoch nicht stoppen. Die fehlende Erfahrung wollten wir mit Kampfgeist und einer top Disziplin bei der Vorbereitung ausgleichen. Unseren Teamnamen hatten wir auch schnell gefunden: „Brothers in Arms“.
David und ich trainierten ab Mai mit vollen Elan. Da wir beide zurzeit in Berlin wohnen, absolvierten wir unser Höhentraining normalerweise am Kreuzberg, den wir teilweise zehn Mal rauf und runter rannten. Ansonsten liefen wir auf Mountainbike Trails im Wald, um uns an die unebenen Wege der Alpen zu gewöhnen. Ein Training in „richtigen“ Bergen ersetzte das natürlich nicht, weshalb das GORE-TEX Trainingscamp im Juni uns gerade recht kam. Für uns sollte das Camp in Brixen zu einem Test werden, ob wir überhaupt den Hauch einer Chance haben den Run2 zu bewältigen.
Unterstützung von den Profis
Als wir auf 1.800 Metern in unserem Hotel in den Südtiroler Bergen ankamen, war uns sofort klar, dass wir nicht an die dünne Bergluft gewöhnt waren. Das bestätigte sich bei einem kurzen Trainingslauf. Wir machten den typischen Anfängerfehler und starteten den Lauf zu schnell. Daniel Jung, ehemaliger GORE-TEX Transalpine Run Sieger, erklärte uns daraufhin, dass es wichtig ist einen gleichmäßigen Rhythmus zu finden. Dabei bleibt die Schrittfrequenz immer gleich und man variiert nur die Schrittlänge. Bergauf geht es mit kleinen Schritten, bergab können wir unsere Schritte größer machen.
Mit dem Tipp vom Profi im Hinterkopf arbeiteten wir uns langsam die Bergwege hoch, jedoch hielten wir uns zurück. Für David sollte es der erste Berglauf mit mehr als 20 Kilometern sein und wir wussten nicht, wie sein Körper auf diese Strapazen reagiert. Bei einer kurzen Pause erklärte uns Trail Running Profi Philipp Reiter, ebenfalls ein vormaliger GORE-TEX Transalpine Run Gewinner, verschiedene Lauftechniken: Er zeigte uns wie wir die Stöcke beim Laufen richtig einsetzten, wie wir gelenkschonender Laufen indem wir die Vorfußmuskulatur trainieren und was man auf jeden Fall in seinen Trail Running Rucksack einpacken sollte. Vielleicht haben wir nicht alle Tipps sofort umsetzen können, jedoch klappte der Lauf besser als erwartet. Nach dem Lauf standen 25 Kilometer, inklusive 1.100 Höhenmeter auf der Uhr. David lief zum ersten Mal in seinem Leben mehr als 20 Kilometer am Stück, was ein super Boost fürs Selbstvertrauen war! Die Mission GORE-TEX Run2 rückte zum ersten Mal in greifbare Nähe.
Hartes Training zahlt sich aus
Wir belohnten uns für die tolle Leistung und stärkten uns ausgiebig mit köstlichen Tiroler Spezialitäten vom Grill und frischen Salat vom Buffet. Krönender Abschluss des Abendessens war der frische Apfelstrudel. Natürlich holten wir uns einen ordentlichen Nachschlag. So macht Trail Running Spaß! Anschließend ging es in die Meditationsstunde von Mental Coach Hannes Mur. Am Ende verlangte er, dass wir alle unsere Trail Running Schuhe ausziehen sollen. Zuerst runzelte ich skeptisch die Stirn, bis ich es selbst ausprobierte und verstand wie gut es tut nach einem langen Lauf barfuß durch die Natur zu laufen. Quasi eine gratis Fußreflexzonenmassage!
Am nächsten Tag klingelte der Wecker mitten in meiner Tiefschlafphase um drei Uhr. Wir wollten den Sonnenaufgang über den Dolomiten anschauen und das hieß früh aufstehen. Der wenige Schlaf und die kalten Temperaturen zerrten an unseren Kräften und der Aufstieg fiel uns schwerer als am Vortag. Nach 750 Höhenmetern, standen wir schließlich auf dem Großen Gabler auf 2.574 Metern und warteten auf den Sonnenaufgang. Vor uns sahen wir die Dolomiten im goldenen Licht glänzen. Ein magischer Moment und ein krönender Abschluss für diese tolle Reise! Als wir wieder auf dem Weg nach Berlin waren sagte David noch: „Ich wusste nicht, dass laufen mir so viel geben kann. Hättest du mir vor vier Wochen gesagt, dass ich mich so darauf freue, hätte ich dir nicht geglaubt.“
Mit der Motivation aus dem Trainingscamp ging es nun an die letzten beiden intensiven Monate der Vorbereitung. Wir nutzten unseren Sommerurlaub um in die Bergen zu fahren. Dort trainierten wir die steilen Aufstiege an die wir Flachland-Berliner nicht gewöhnt sind. Nach circa vier Monaten Vorbereitung, sollte ein letzter langer Lauf durch den Berliner Grunewald das Ende unseres Trainings sein. Wir knackten die 30 Kilometer Marke und holten uns einen weiteren Boost für das Selbstvertrauen, denn so weit sind wir zuvor noch nie gerannt.
Tag 1: Garmisch-Partenkirchen nach Nassereith
Am 2. September war es dann so weit, wir starteten in Garmisch-Partenkirchen zu unserem allerersten Trail Running Rennen. Unser Ziel war klar definiert: einfach nur irgendwie in Nassereith ankommen. Schon alleine, dass wir hier an dem Start standen war für uns ein persönlicher Erfolg. Wir stellten uns also ganz hinten im Startfeld auf und begannen ruhig. Die ersten Kilometer zogen schnell an uns vorbei und nach dem ersten Aufstieg verflog auch unsere Nervosität. Den ersten Verpflegungsstopp erreichten wir ohne Probleme. Während unserer gemeinsamen Vorbereitung hatten wir uns eine Strategie für den Boxenstopp überlegt: Ich war für das Auffüllen von Wasser zuständig, David für das Beschaffen von Essen. So halbierten wir unsere Zeit beim Anstehen. Solche kleinen Optimierungen halfen uns während des Rennens vor allem mental. Wir wussten, dass wir diesen Lauf nur gemeinsam als Team beenden können und wir wollten unsere fehlende Erfahrung mit Teamspirit ausgleichen.
Die gute Organisation zahlte sich aus und wir sammelten mehr Selbstvertrauen. Beim ersten Downhill kamen wir vollends in unseren Flow und begannen die ersten Läufer zu überholen. Wir funktionierten wie eine gut geschmierte Maschine, die langsam aber effizient nach vorne rollte. Als ich am letzten Anstieg keine Power mehr hatte, zog mich David den Berg hoch und als wir beim Abstieg nach Nassereith mit steilen und rutschigen Trails zu kämpfen hatten, drängte ich David es laufen zu lassen. So ergänzten wir uns auf den 43,6 Kilometern (und 2.500 Höhenmetern Anstieg) gegenseitig und erreichten nach sieben Stunden und 45 Minuten das Ziel. Überglücklich fielen wir uns in die Arme. Das erste große Ziel hatten wir erreicht. Wer hätte das gedacht?
Kaum kamen wir abends im Hotel an, wurden unsere Körper auf Blessuren abgecheckt. Die Blasen an den Füßen wurden versorgt, die Beine in die Eistonne gehalten und die Oberschenkel mit Hilfe einer Blackroll massiert. Wir wollten schließlich unsere super Leistung des ersten Tages wiederholen und für den Lauf von Nassereith nach Imst in einer körperlich guten Verfassung sein. Davids Körper wurde allerdings mehr in Mitleidenschaft gezogen, als wir zunächst gedacht hatten: Blutunterlaufende Nägel und riesige Blutblasen an den Fersen machten jeden Schritt zur Qual. Trotzdem wollte er unbedingt am nächsten Tag starten.
Tag 2: Nassereith nach Imst
Am Morgen starteten wir leicht angeschlagen die zweite Etappe. Von Nassereith geht es nun etwa 1.000 Höhenmeter bergauf. Der Vortag hat uns mehr in Mitleidenschaft gezogen als gedacht und die Beine wollen nicht locker werden. Im Training hatten wir einige lange Läufe absolviert, doch danach hatten wir immer ein paar Tage um uns auszukurieren. Beim Run 2 läuft man direkt am nächsten Tag weiter, egal ob der Körper schon wieder fit ist oder nicht. Nach etwa zwei Stunden hatten wir die meisten Höhenmeter hinter uns gebracht und lagen überraschend gut in der Zeit. Die Zuschauer feuerten uns mit ihren Kuhglocken an und pushten uns die letzten steilen Anstiege hoch. Beim Abstieg begannen jedoch die Probleme. Bei jedem Schritt kamen Davids blutunterlaufenden Fußnägel an die Schuhspitzen. Dieser höllische Schmerz verlangsamte unser Tempo soweit, dass wir bergab nur noch gehen konnten. Sollten zu kleine Schuhe, ein typischer Anfängerfehler, uns 15 Kilometern vor dem Ziel zum Aufgeben zwingen? Noch kämpfte David gegen den Schmerz an.
Ein wenig später erreichten wir den Verpflegungspunkt und David erklärte, dass er die Schmerzen nicht mehr aushält. Die Entscheidung fiel ihm sichtbar schwer so kurz vor dem Ziel aufzuhören, doch im Nachhinein war es genau richtig. Die zweite Hälfte des Rennens ging nämlich nur noch steil bergab. Ich entschloss mich die Etappe für uns beide weiter zu laufen und beendete sie nach 27,2 Kilometern (mit 1.400 Höhenmetern) und 4 Stunden und 35 Minuten. Mein erster Blick beim Zieleinlauf ging zu David, der im Zielbereich auf mich wartete. Obwohl wir die letzten Kilometer nicht mehr gemeinsam gelaufen sind, war es doch unsere einmalige Teamleistung, die uns soweit gebracht hat. Wir fielen uns um die Arme und feierten unseren Erfolg.
Brothers in Arms
Unser gemeinsames Training, die gegenseitige Motivation, die nächtlichen Beratungen über unsere Ausrüstung und Packliste, die Zuschauer an der Strecke, die uns anfeuerten, all das waren meine ganz persönlichen Highlights. Und andererseits gibt es auch schwierige Momente. Wenn man vor der Arbeit noch ein Runde Laufen muss, will man sich am liebsten noch unter der Bettdecke verstecken. Und auch das Sozialleben fällt ein wenig flacher aus. Wenn deine Freunde am Samstag Abend groß feiern gehen, hält man sich lieber ein wenig zurück, denn man weiß, dass am nächsten Tag ein Long Run auf dem Plan steht. Doch genau diese Hingabe versüßt den Erfolg umso mehr.
Gleich nach dem Ausscheiden aus dem Rennen verkündete David, er werde nie mehr Laufen. Doch schon einige Tage später war der Frust verflogen und er rief mich an. Er wollte mich fragen welche Trail Running Schuhe ich ihm empfehlen würde. Er will jetzt nämlich wieder laufen gehen. Dieses Mal hat er seine Schuhe aber in einer Nummer größer bestellt! Ein individueller Erfolg für meinen Bruder war es, dass er während des Trainings zehn Kilo abgenommen hat. Das motiviert natürlich weiterhin Laufen zu gehen. Die Challenge im Team zu laufen und die schönen und schwierigen Momente gemeinsam zu teilen und sich gegenseitig zu unterstützen, genau das ist der Reiz des GORE-TEX Transalpine Run2. Getreu unserem Teamnamen „Brothers in Arms“ war es für uns als Brüder wunderschön auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und über uns hinaus zu wachsen.