Meter für Meter schiebe ich meine Ski über einen langen Rücken den Berg hinauf. Mette und Toni sind bereits einige Kehren voraus. Während ich tief in Gedanken weiter marschiere, erfüllt tief unten aus dem Tal die Stimme eines Muezzins die Luft. Was für eine Kombination. Tief sauge ich das Bild verschneiter Bergflanken und die orientalischen Klänge in mich ein. Ein einzigartiger Moment, an den ich mich noch lange erinnern werde. Erlebt hoch oben im Kaçkar Gebirge, in den anatolischen Ausläufern des kleinen Kaukasus.
Bereits die Anreise in dieses weltentrückte Hochtal passt bestens in das Drehbuch eines echten Skiabenteuers. Annullierte Flüge aufgrund heftiger Winde sind auf dem 1.600 Meter hoch gelegenen Flughafen von Erzurum keine Seltenheit. Nichtsdestotrotz ist die Metropole Ostanatoliens mit ihren 400.000 Einwohnern und zwei Skigebieten unmittelbar vor den Toren der Stadt geradezu der ideale Ausgangspunkt für einen Skitrip in diese Region.
Über eine gut ausgebaute Schnellstraße verlassen wir die Stadt und dringen ein in die karge, nur von ein paar Sträuchern verzierte Bergwelt. Immer wieder denke ich an die Schilderungen von Karl May, daran, wie er sich das wilde Kurdistan vorgestellt hat. Eingezwängt zwischen drei Bergflanken erscheint nach einer Rechtskurve im engen Tal des Çoruh-Flusses die Stadt Yusufeli, Tor in den Nationalpark des Kaçkar Gebirges. Hier endet die asphaltierte Straße. Zwei Stunden lang arbeitet sich unser SUV bei zunehmend stärker werdendem Schneefall die rumpelige Schotterpiste hinauf nach Yaylalar, in unser 1.900 Meter über dem Meer gelegenes Basecamp für die kommenden Tage.
Inzwischen habe ich zu Mette und Toni aufschließen können. An einem prägnanten Felssattel machen wir nach gut zwei Stunden Aufstiegszeit Pause und füllen unsere Kraftreserven wieder auf. Vergeblich suchen wir auf den gegenüberliegenden Hängen die Spuren unserer Mitbewohner aus der Pension Camyuva. Zu weitläufig ist das Gelände. Genau wie wir wollten sie von Yaylalar aus zunächst auf der zugeschneiten Straße ins letzte bewohnte Örtchen Olgunlar aufsteigen. Eigentlich wäre für unsere Touren Olgunlar als Basecamp sogar ein Stückchen besser geeignet als Yaylalar. Infrastruktur und die weitaus sicherere Straßensituation sprechen aber für Yaylalar. Deswegen hatte Yüsel, ein deutsch-türkischer Bergführer, uns bereits bei der Planung die Pension Camyuva ans Herz gelegt.
Der Blick hinüber auf die hohen Spitzen im Norden zeigt, dass vom Schwarzen Meer her Wolken aufziehen. Binnen weniger Minuten ist die Sonne verschwunden und es beginnt zu schneien. Heute am ersten Tag wollen wir auf Nummer sicher gehen und beschließen abzufahren. Auch wenn wir den angepeilten Gipfel nicht erreicht haben, war es ein gelungener erster Tag im türkischen Powder.
Entspannt lassen wir uns auf der Bank neben dem Tante-Emma-Laden des Dorfes nieder, gönnen uns ein Bierchen und holen uns unter Einsatz von Händen und Füßen Tipps bei den Einheimischen, die sich in der Einsamkeit des langen Winters über jede Art der Abwechslung freuen. Während Yaylalar im Sommer mehr als 500 Einwohner hat, sind es im Winter nur wenige. Das harte Leben fernab der Zivilisation treibt die Jüngeren in die Städte. Bei türkischen Touristen gilt das Kaçkar Gebirge als reine Sommerdestination, um in der frischen Höhenluft Abkühlung von der trockenen Sommerhitze Anatoliens zu finden.Die feuchte Luft des Schwarzen Meeres bringt regelmäßig Niederschläge in diese Region. Verglichen mit den Vorjahren liegt laut Ismael, der gemeinsam mit seinem Bruder Naim das Camyuva betreibt, diese Saison ausgesprochen wenig Schnee. Die zwei Brüder gehören zu den wenigen Gastwirten, die auch im Winter Touristen willkommen heißen. Bis vor einigen Jahren kamen Skifahrer überwiegend für Heliski-Exkursionen hierher. Seitdem Hubschrauberflüge aus Naturschutzgründen im Kaçkar untersagt wurden, steigt die Zahl an Tourengehern, die abseits des Trubels Abenteuer und Einsamkeit suchen.
Tag zwei im Kaçkar erwartet uns mit blauem Himmel. Wie üblich ist es Toni, den bei Sonnenaufgang um halb sechs nichts mehr Bett hält. Sein Jagdinstinkt treibt ihn hinaus, um die frühmorgendlichen Stimmungen fotografisch festzuhalten. Punkt halb sieben sitzen aber auch wir am Frühstückstisch und machen uns über Schafskäse, Oliven und Fladenbrot her.
Heute marschieren wir nicht bis Olgunlar sondern verlassen direkt hinter der Moschee von Yaylalar die Straße. Tatsächlich hat es über Nacht mehr Neuschnee gegeben als erwartet. Gute dreißig Zentimeter zuckerweichen Pulver müssen wir bei jedem Schritt vor uns herschieben. Im Schatten der Bäume überwinden wir die ersten vierhundert Höhenmeter. Auf einem Plateau angekommen erspäht Toni einen Spot, an dem er unbedingt ein Foto schießen möchte. Zweihundert Höhenmeter an zusätzlichem Aufstieg würde dies bedeuten. Den Aufwand nimmt man in so einer Umgebung doch gerne in Kauf. Schnell sind die Felle ab und schon ertönt das „Go“ aus dem Funkgerät. Zu beachten gibt es nicht sonderlich viel. Es ist ein episch breiter Hang, wie es hier oben im Nordosten der Türkei unweit der Georgischen Grenze viele gibt. Mit meinen Stöcken schiebe ich mich an, nehme Fahrt auf und lasse es einfach nur laufen. In großen Turns ziehe ich meine Linie in den anatolischen Tiefschnee.
Unser Ziel für heute ist der 3.179 Meter hohe Kanucar Tepes, der westlichste Gipfel der Davut Dağı Kette. In wechselnder Führung arbeiten wir uns Spitzkehre um Spitzkehre die steilen dreihundert Höhenmeter hinauf auf den markanten Grat. Was für eine Aussicht. In einiger Entfernung sehen wir unseren gestrigen Aufstiegsrücken und weiter hinten im Tal recken sich die felsigen Flanken der Kaçkar Dağlari Gruppe in den Himmel. Für den langen Aufstieg auf den Kaçkar Dağı, der mit 3.932 Meter alle anderen Gipfel der Region überragt, ist es ratsam eine Nacht zu biwakieren.
Trotz grandioser Aussicht halten wir unsere Pause kurz. Schatten ziehen herein, die natürlichen Feinde eines Skifotografen. Wir müssen uns beeilen, um noch einige Bilder in den Kasten zu bekommen. Wie kleine Kinder freuen wir uns auf die 1.200 Abfahrtsmeter zurück nach Yaylalar. Über anfangs steiles und im unteren Teil kupiertes Almgelände geht es im Licht der untergehenden Sonne abwärts. Im Talgrund angekommen, springen wir einige Male über das Bachbett des Mahlen Deresi, der sich seinen Weg durch die steile Schlucht bahnt.
In den folgenden Tagen brechen wir bereits um sechs Uhr auf, um die Sonnenstunden auszunutzen. Glücklicherweise ist es den Dorfbewohnern inzwischen gelungen, die Straße nach Olgunlar zu räumen, was eine Stunde Aufstiegszeit spart. Vorbehalten bleiben uns die endlosen Südosthänge am Naletleme Pass, die als ein Highlight der Region gelten. Zu sehr hat der Wind den Schnee in die schattigen, nördlichen Expositionen geweht. Abends im Camyuva nutzen wir das leckere Abendessen für einen intensiven Informationsaustausch. Vor allem die französische Gruppe hat nach einer Woche Kackar wertvolle Tipps für uns. Wie auf Berghütten in den Alpen gehen auch im Camyuva ab 22 Uhr die Lichter aus. Nach den Anstrengungen des Tages dauert es meist nur wenige Minuten bis meine Augen zufallen.
Inzwischen ist unser letzter Tag im Kackar angebrochen. Gemeinsam mit ein paar Belgiern brechen wir in Richtung Binsir Tepes auf, der mit 3.408 Metern diesen Teil der Karmovut Gruppe dominiert. Während die Belgier in den flacheren Bereichen bleiben und Toni sich zum Fotografieren am Gegenhang positioniert, kämpfen Mette und ich uns weiter nach oben. Ein Couloir zu unserer Rechten hat es mir angetan. Mit den Ski auf dem Buckel überwinde ich einen kleinen Felsdurchstieg, grabe eine Höhle zum Anschnallen und mache mich abfahrtsbereit. Zwei, drei gesprungene Kurven und eine unerwartete Kruste bringt mich kurz aus dem Gleichgewicht. Ein Sprung über ein kleines Felsband hilft mir, die Balance wiederzufinden. In langen Schwüngen schieße ich durch staubenden Schnee hinab. Einfach himmlisch.
Auf der Hinfahrt hatten wir keine Zeit verlieren wollen. Jetzt nehmen wir uns für die Rückreise nach Erzurum bewusst einen ganzen Tag Zeit. Bei glitzerndem Sonnenschein wird klar, weshalb der Barhal Fluss auf seinem Schlängelkurs bis Yusufeli als einer der schönsten Wasserströme der Türkei gilt. Die verwunderten Blicke der Einheimischen bei unserem Pausenstopp in Yusufeli zeigen, dass Fremde in bunten Skiklamotten in diesen Tälern nach wie vor eher eine Seltenheit sind.
Zurück in Erzurum stellen wir überrascht fest, dass unser Hotel am Fuße des Palandöken Ski Centers ausgebucht ist. Im Internet finden wir noch ein letztes Zimmer in der Innenstadt. Skitouristen? Nein, es ist der türkische Ministerpräsident Erdogan persönlich, der heute für eine Wahlkampfveranstaltung nach Erzurum kommt, just zwei Tage nachdem Twitter im Land am Bosporus abgeschaltet wurde. Gespannt schieben wir uns durch die Massen, die orange-weiße Fähnchen schwenken und ihrem Präsidenten zujubeln. Doch als wir den zentralen Platz der Kundgebung betreten wollen, wird Toni vom Sicherheitspersonal gestoppt. Mit einer Spiegelreflexkamera darf man Herrn Erdogan natürlich nicht zu nahe treten.
Die Geräusche der Großstadt wecken uns am nächsten Morgen. Von der Frühstücksterrasse im achten Stock blicken wir direkt auf die weißen Wipfel, die Erzurum umgeben. Da wir uns gerne noch einen Eindruck von beiden Skigebieten der Stadt machen möchten, folgen wir gleich der Bundesstraße ins 18 Kilometer entfernte Konakli. Vierspurige Zufahrtsstraßen erinnern an große, amerikanische Skiresorts. Das Konakli Skigebiet und das Weltcup-Ansprüchen genügende Skisprungstadion wurde speziell für die Universiade 2011 errichtet. Fast macht es den Eindruck, als ob Anatolien sich auch einmal für Olympia bewerben möchte. Herrn Erdogan wäre es zuzutrauen.
Sechs modernste Sessellifte umspannen den weiten Talkessel Konaklis und ergeben ein Pistennetz von 22 Kilometern. Schnee hat es in dem leicht zurückversetzten Hochtal zu Genüge. Nach einigen Fahrten auf perfekt präparierten und menschenleeren Pisten ziehen wir Felle auf. Fünfundvierzig Minuten dauert der Aufstieg zum höchsten Punkt der Bergkette. Nun ist zum ersten Mal der Blick frei Richtung Süden. Auch dort säumen weiße Berge den Horizont, soweit das Auge reicht. Jetzt gegen elf Uhr ist der Schnee bereits leicht aufgefirnt. In einer Genussabfahrt ziehen wir unsere Spuren in den feinen Frühjahrsfirn. „Noch einmal hoch?“, fragen wir uns. Nein lieber zusammenpacken und rüber mit dem Auto nach Palandöken.
Als bestes Skigebiet der Welt wurde uns Palandöken bereits am Flughafen Istanbul angepriesen. Schon bei der Anfahrt ist zu spüren, dass am Hausberg von Erzurum mehr Trubel herrscht als im 18 Kilometer entfernten Schwester-Resort. Die hochpreisige Hotelinfrastruktur lässt kaum Wünsche offen. Kein Wunder, dass auf dem Parkplatz Autos mit russischen, armenischen und sogar iranischen Kennzeichen in Reih und Glied nebeneinander stehen. Ein Hauch westlichen Luxuslebens liegt über dem Skigebiet. Das Areal um den 3.180 Meter hohen Ejder hat durchaus für Variantenfahrer, die kurze Aufstiege mit Fellen nicht scheuen, einiges zu bieten. Wir genießen den Sonnenuntergang und blicken ein letztes Mal hinunter auf Erzurum, das Meer von Minaretten und die weiten Hochtäler. Eine faszinierende Woche geht zu Ende in einer Region, die auf uns jetzt so nah und doch immer noch so fern wirkt. Irgendwann kommen wir zurück in diesen entlegenen Winkel der Welt. Dann werden wir es hoffentlich schaffen, auch den Kaçkar Dağı mit Ski zu befahren und genug Zeit mitbringen, um die Reise an den Stränden der Türkei ausklingen zu lassen.
Flugverbindung:
Mit Turkish Airlines über Istanbul nach Erzurum
Anreise ins Kackar Gebirge:
Allrad-Mietwagen für sieben Tage ca. 400 Euro
Low Budget:
Mit dem öffentlichen Bus von Erzurum bis Yusufeli, von dort fährt einmal täglich ein Kleinbus nach Yaylalar.
Unterkunft Kackar:
Pension Camyuva 30 Euro pro Nacht inllusive Halbpension
Deutsprachiger Guide:
Yüksel Yilmaz
Beste Saison für Skitouren:
Mitte Februar bis Mitte März