Fläze dich mit diesem pastellfarbenen Schinken in den Lesesessel, lege getrost für ein paar Stunden das Smartphone weg und vergiss die Hochglanz-Geschichten, die durch Instagram rauschen. Du hast 208 Seiten vor dir, in denen es weniger um praktische Tipps als mehr um die lebenslange Liebesgeschichte zwischen bergliebenden Frauen und den Bergen geht.
„Wir sind alle (Berg-)Heldinnen und jede ist so, wie sie ist, individuell und perfekt.“
In „Mountain Girls“ erzählen Frauen aus der Community in persönlichen Berichten, Interviews, Tipps und reflektieren Texte davon, wie vielfältig Frauen die Berge erleben können. In der mittlerweile an die 15.00 Frauen großen Community der Munich Mountain Girls, die sich vor allem über Facebook vernetzt, ist jede willkommen, egal wie alt, egal ob sie Einsteigerin oder Pro, Bikerin, Wandernde oder Skifahrerin ist. Es geht darum, sich zu inspirieren, auszutauschen, Gleichgesinnte zu finden und sich gegenseitig zu Abenteuern zu ermutigen.
Von Tipps für Low Budget Reisen bis zu Spielen für den Hüttenabend
„Es gab mir oft diesen Stich ins Herz, wenn ich nach einer Tagestour oder kürzeren Mehrtagestour wieder auf dem Weg nach Hause war. Ich wollte länger draußen bleiben, für Wochen oder gar Monate.“ So erzählt Katrin in einem der vielen Interviews, die im Buch zu finden sind, wie sie sich ans Weitwandern herangetastet hat, welche Rolle die Vorbereitung auf die Tour spielt und was ihr das alleine in der Natur sein gibt. Vielleicht helfen Manuelas „fünf Tipps für Low-Budget-Reisen“ auf der nächsten Doppelseite im Kapitel „Auf Tour“ bei der Planung für deine erste lange Wandertour? Wenns dann doch einmal eintönig werden sollte auf der Wanderung könnten Annas „Acht gute Spiele, für die es nichts braucht außer Menschen und Zeit“ über langweilige Stunden hinweghelfen. Spätestens jetzt könnte es sein, dass du das oben weg gesteckte Smartphone doch noch einmal hervorholen möchtest, um im Kalender nach der nächsten Möglichkeit für eine Mehrtagestour zu suchen.
Vom Traum auf der Hütte zu leben – oder eben nicht
Wer an Bergtouren denkt, denkt vielleicht auch daran, mal mehr als eine Nacht auf einer Hütte zu verbringen. Im Kapitel „Hüttenliebe“ geht es nicht nur um romantische Sonnenuntergänge, muffelnde Socken und die Anforderungen an diejenigen, die davon träumen, einen Sommer auf einer Hütte zu arbeiten. Es geht auch darum, was diese Zeit am Berg mit dem Menschen macht, wie sich Aufbrechen und Ankommen neu definieren, und ob vielleicht die Entscheidung für einen Lebensmittelpunkt in der Stadt doch die bessere ist.
Denn dort, in der Stadt, in ihren Parks, am Fluss, zwischen Arbeit, Familie und Wochenende, stecken irgendwo die kleinen Draußen-Entdeckungen, die Abenteuer, die vielleicht nicht auf den ersten Blick mit „Hier ist dein Bergerlebnis“ betitelt sind, dafür aber mindestens genauso im Gedächtnis bleiben wie die spitzen Gipfel zu Fuß und die steilen Abfahrten auf den Skiern. Und wenn Kaddi beschreibt, wie sie dank Corona die Trails vor ihrer Haustüre neu lieben gelernt hat, sind die Radhandschuhe schon so gut wie angezogen, oder? Denn ein Abend zum über die Trails rumpeln findet sich doch immer.
Von leidigen Geschlechterklischees und Bergpionierinnen
Apropos daheim bleiben: Vom Spagat zwischen Mama sein und ihrem Beruf als Bergführerin erzählt Gudrun Weikert im Kapitel „Bergheldinnen“: „Wenn du auf Expedition bist und als Mutter ums Leben kommst ist das ein Riesenthema. Wenn ein Bergführer stirbt, ist oft eine Familie dahinter. Aber der wird nicht am Elternabend erwartet, sondern die Mutter.“ Dass Frauen besonderen Biss beweisen müssen, wenn sie ihrer Bergleidenschaft folgen wollen, ist auch heute noch Thema, trotz weit gedachter (alpiner) Gleichberechtigung. Seit die Besteigung von Bergen dokumentiert ist, gibt es auch Zeugnisse über die Gipfelerfolge von Frauen. Als Lucy Walker 1871 als erste Frau auf dem Matterhorn stand, war ihr aber vermutlich ziemlich egal, was die Männer unten im Tal über sie dachten.
Gemeinsam Großes wagen – mit und ohne Kinder
Um mit weiteren Genderklischees aufzuräumen, klärt Nina im Nachhaltigkeits-Kapitel darüber auf, dass Fahrrad reparieren ganz und gar Frauensache ist, und Christine motiviert zu Übermut und erzählt davon, wie sie sich als Rennrad-Neuling einen 48 Kehren langen Bergpass als Ziel gesetzt und erradelt hat: „Warum nicht sofort das Große anstreben?“
Beim über sich Hinauswachsen geht es doch in sehr vielen Fällen darum, die Komfortzone zu verlassen, eine persönliche Grenze zu überschreiten, eine Einstellung zu hinterfragen, sich selbst und die Umgebung auszutesten und die Leute zu finden, die für die gleichen Ziele brennen. „Ich dachte mir: Mit denen passiert mir nichts“ erzählen Veronika und ihre Hochtouren-Freundinnen im Interview über ihre Frauenseilschaft. Ähnlich geht es Kaddi und Meike bei ihrer zweitägigen Alpenüberquerung mit dem Rennrad, denn gemeinsam ist jeder noch so zähe Anstieg zu schaffen. Und in Erinnerung bleiben ja doch eher die Touren, bei denen die gute Gesellschaft den Schmerz wettmacht.
Wenn dir der Nachwuchs vermeintlich die Gelegenheit nimmt, tage- oder gar wochenweise weg von zu Hause zu sein, dann könntest du dich im Kapitel „Berge und Kinder“ wiederfinden, wo es um die eigenen Erwartungen geht, die kleinen Enttäuschungen, wenn das Kind statt weiterzugehen Steine werfen will, die Hoffnung, endlich mal wieder „richtig“ unterwegs zu sein, oder eben auch die bewusste Entscheidung gegen Kinder und damit Verpflichtungen und Verantwortung anderen gegenüber.
Dem geneigten Outville-Freund und der passionierten Outville-Leserin kommen manche Namen und Themen in diesem Artikel und folglich dem Mountain Girl Buch sicherlich bekannt vor – und falls nicht, haben wir versucht dich mit Links dezent darauf hinzuweisen. Ja, unsere Outville-Geschichten haben Druckqualität und es freut uns, das einige davon es in das „Mountain Girls“ Buch geschafft haben. Warum sich für Outville-Hardcore-Fans der Kauf des Schmökers trotzdem lohnt? Weil die Outville-Texte noch lange nicht alles sind - und weil ein Buch einfach ein Buch ist.
Bergliebe ist bunt
Aber jetzt raus aus dem Lesesessel und los mit einem Rucksack voller Pläne, neuer Perspektiven, Motivationen und Brotzeit (siehe Kapitel „Ernährung“). Bergliebe beginnt in den eigenen Träumen und endet im… ja, wo denn? Meistens gleicht sie einem Bergpanorama – es geht bergauf und bergab, mal bleibt sie im Tal, mal sucht sie sich hohe Gipfel. Aber ein Ende kennt sie vermutlich nicht, denn sie ist so bunt und vielfältig wie all die Menschen, die sie einmal kennengelernt haben.
„Mountain Girls“, Prestel Verlag, 32 €