Für mich war lange total klar, dass Energie, die durch Wasserkraft gewonnen wird, sauber und umweltfreundlich ist. Denn es entstehen weder sichtbare, umweltbelastende Abgase noch radioaktives Material, von dem wir nicht wissen, wohin damit. So dachte ich zumindest. Mittlerweile bin ich ein wenig schlauer und weiß, dass es anders ist und man das Thema Wasserkraft wie so häufig wesentlich differenzierter betrachten muss.
Wie kam’s dazu? Im Frühjahr 2018 verbreitete sich die Blue Heart Kampagne von Patagonia in den sozialen Medien. Das amerikanische Outdoor Unternehmen rief dazu auf, eine Petition gegen die Finanzierung von mehr als 3.000 Wasserkraftprojekten in der Balkanregion durch internationale Banken zu unterzeichnen, zum Schutz der letzten frei fließenden Flüsse Europas, dem so genannten Blauen Herz. Als ich davon mitbekam, dachte ich mir, naja, warum soll man gegen den Bau von Wasserkraftwerken mobil machen? Schließlich muss die Energie für unseren teils verschwenderischen Lebensstil irgendwo herkommen und ist es nicht besser sie durch Wasserkraft zu erzeugen anstatt durch schmutzige Kohle- oder Kernkraftwerke?
Auf einer Veranstaltung zu diesem Thema traf ich Uli Eichelmann, einen deutschen Umweltaktivisten und Gründer der NGO RiverWatch. Seit über 30 Jahren kämpft er für den Schutz und Erhalt von Flüssen und gegen den Bau von Wasserkraftwerken. Er war es auch, der die Kampagne Save the Blue Heart of Europe maßgeblich mit aufgesetzt hat. Wasserkraftwerke und die dafür nötigen Wasserumleitungen und Staudämme stellen aus seiner Sicht einen katastrophalen Eingriff ins Ökosystem dar, dies gilt insbesondere auch für so genannte Kleinwasserkraftwerke. Diese sind im Bau und Unterhalt extrem kostspielig, produzieren aber in Relation dazu nur sehr wenig Strom. Deshalb ist die Sinnhaftigkeit solcher Wasserkraftwerke für die Allgemeinheit mehr als fraglich, nicht aber für die finanzierenden Banken und ausführenden Bauunternehmen.
Bei den im konkreten Fall geplanten und teilweise schon umgesetzten Staudammprojekten auf dem Balkan, zwischen Slowenien und Albanien, handelt es sich fast ausschließlich um solche Kleinwasserkraftwerke. Aufgrund ihrer Größe unterliegen sie keiner Umweltverträglichkeitsüberprüfung – das wird gnadenlos ausgenutzt und befeuert die Korruption. So befinden sich ein Drittel der Projekte innerhalb geschützter Gebiete und 118 sogar in Nationalparks. Der ökologische und kulturelle Schaden, der durch den Eingriff in die Naturlandschaft verursacht wird, ist teilweise enorm: Der Lebensraum für Mensch und Tier droht nachhaltig zerstört zu werden. Es kommt zu Zwangsumsiedlungen, zum Aussterben von Pflanzen- und Tierarten sowie zum Verlust lokaler Trinkwasserquellen.
Führt man sich vor Augen, dass bei uns in Deutschland die meisten Flüsse und Bäche bereits in einem desaströsen Zustand sind, so klingt das drohende Szenario ziemlich düster. Eine Ende März 2018 veröffentlichte Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen hin macht die dramatischen Ausmaße klar: Nur 6,6 Prozent der bewerteten Fließgewässerabschnitte in Deutschland sind nach EU-Kriterien ökologisch in gutem Zustand und gerade mal 0,1 Prozent in sehr gutem Zustand. In 93 Prozent der Fließgewässer findet man nicht mehr die Vielfalt der Fische, Pflanzen und Kleintiere, die es ursprünglich mal gab und 79 Prozent der Fließgewässer sind durch den Ausbau in ihrer Struktur deutlich bis vollständig verändert.
Auf dem Balkan zwischen Slowenien und Griechenland dagegen zeichnet sich ein vollständig anderes Bild. Nach Untersuchungen von RiverWatch und EuroNatur befinden sich dort 80 Prozent der bewerteten 35.000 Flusskilometer in einem sehr guten bis guten Zustand, und 30 Prozent in einem nahezu ursprünglichen Zustand. Es ist Europas wildestes und ursprünglichstes Flussnetz mit kristallklaren Bächen, spektakulären Wasserfällen, tiefen Canyons, intakten Urwäldern, mächtigen Wildflüssen mit weitläufigen Schotterbänken und eine der bedeutendsten Regionen für Süßwasser-Biodiversität in Europa. So sind 69 endemische Fischarten hier beheimatet, die es nirgendwo anders gibt und über 40 Prozent aller gefährdeten europäischen Süßwasser-Muscheln und Schnecken.
Es ist ein noch intaktes Ökosystem, das es in dieser Form in Europa kaum noch gibt. Doch es wird massiv bedroht. Von ökonomischen Interessen korrupter Regierungen und internationaler Banken. Mehr als 700 Millionen Euro pumpen Banken gemäß des Bank Watch Berichts in die Finanzierung von Staudamm Projekten auf dem Balkan. Es geht um sehr viel, um Geld und Macht auf der einen Seite und das blanke Überleben auf der anderen Seite. Die ganze Situation gleicht dem Kampf zwischen David und Goliath.
Yvon Chouinard, Gründer von Patagonia, Umweltaktivist und leidenschaftlicher Angler, kämpft schon seit über 30 Jahren gegen Staudammprojekte. Mit der Kampagne Save the Blue Heart, dem Dokumentarfilm Blue Heart und der Online-Petition will Chouinard mit Hilfe seiner global agierenden Outdoormarke auf die drohende Umweltzerstörung aufmerksam machen und Druck auf die internationalen Projektentwickler und Banken ausüben.
Der unter der Regie von Britton Cailloutte (Farm League) entstandene Film dokumentiert auf eindrucksvolle und sehr emotionale Weise das Engagement lokaler Aktivisten, mit Unterstützung europäischer NGOs wie RiverWatch und EuroNatur, gegen die Ausbeutung der Natur und die Zerstörung der Lebensgrundlage hunderttausender Menschen. So portraitiert Blue Heart den Kampf zum Schutz der albanischen Vjosa, dem längsten staudammfreien Fluss Europas, die Bemühungen den gefährdeten Balkanluchs in Mazedonien zu schützen und zeigt den fast ein Jahr andauernden, friedlichen Protest der Frauen von Kruščica in Bosnien und Herzegowina für den Schutz der einzigen Trinkwasserquelle ihrer Gemeinde - wofür sie sogar körperliche Gewalt von staatlichen Behörden in Kauf nahmen.
Nach acht Jahren intensiver “Lobbyarbeit” zum Schutz der Wildflüsse auf der Balkanhalbinsel durch Patagonia, die IUCN (International Union for Conservation of Nature) und Umwelt-Nichtregierungsorganisationen der Kampagne “Save the Blue Heart of Europe” erhält der Fluss Vjosa Mitte März 2023 von der albanischen Regierung den Status eines Nationalparks. Es entsteht damit auch gleichzeitig der erste Wildfluss-Nationalpark Europas.
Die Vjosa und ihre Hauptzuflüsse fließen über 400 Kilometer vom griechischen Pindus-Gebirge, wo sie Aoös genannt wird, bis zur Adriaküste in Albanien. Der Fluss und seine Umgebung beherbergen intakte Ökosysteme mit einer beachtlichen biologischen Vielfalt. So leben dort über 1.100 Tierarten, darunter 13, die weltweit als bedroht gelten und rund 1.500 Pflanzenarten, von denen die IUCN zwei als gefährdet einstuft.
Durch den Vjosa-Wildfluss-Nationalpark, der ab Anfang 2024 voll betriebsfähig sein soll, wird eine nachhaltige Grundlage geschaffen, um Lösungen für die Herausforderungen zu finden, mit denen der Fluss konfrontiert ist. Dazu zählen insbesondere die Themen Wasser- und Bodenverschmutzung, Abfallwirtschaft, Abholzung und verantwortungsvoller Tourismus, der örtlichen Gemeinden wirtschaftliche Chancen bietet, um unter anderem das Problem des Bevölkerungsrückgangs zu lösen.
Die 1948 gegründete IUCN ist heute das größte und vielfältigste Umweltnetzwerk der Welt, das sich das Wissen, die Ressourcen und die Reichweite von mehr als 1 400 Mitgliedsorganisationen und 15 000 Experten zunutze macht. Diese Vielfalt und dieses Fachwissen machen die IUCN zur globalen Autorität, wenn es um den Zustand der natürlichen Welt und die zu ihrem Schutz erforderlichen Maßnahmen geht.