Am Anfang war ein Traum. Der Traum von Freiheit und Abenteuer. Der Traum mit einem alten Land Rover einmal quer durch Afrika zu fahren. Von Norden nach Süden, von Marokko nach Südafrika. Tausende Kilometer Sand, Matsch, tolle Menschen und ein bisschen Ungewissheit. Dieser Traum schlummerte schon seit einigen längeren Offroad-Reisen durch Südafrika, Namibia und Angola in mir und rückte ausgerechnet an einem kalten Wintertag Anfang 2018 irgendwo im gar nicht mal so sonnigen Kiel an der Ostsee in greifbare Nähe. Zusammen mit meiner Freundin kaufte ich dort relativ spontan einen alten, grünen Land Rover Defender und richtete ihn in nicht einmal drei Monaten auf Münchner Parkplätzen und in der Einfahrt des Hauses unseres Freundes Christian zum vollwertigen Expeditionsfahrzeug her. Wer von euch schon mal einen Land Rover besessen hat weiß, dass Land Rover eigentlich nie ganz fertig werden. Sie halten immer die ein oder andere kleine Überraschung bereit und zaubern diese meistens in Momenten aus dem Hut, in denen entweder Platzregen oder völlige Dunkelheit herrschen und die nächste Werkstatt etwa 8.903 km entfernt ist. Gutes Werkzeug, viel Zeit und gesunder Optimismus sind auf jeden Fall Grundvoraussetzung für diese Art des Reisens.
Freiheit ist nicht selbstverständlich
Gerade klingt diese Geschichte für mich wie aus einem anderen Jahrhundert. Ich kann selbst kaum glauben, dass wir damals einfach spontan unsere Jobs gekündigt haben, den sowieso überschaubaren Hausrat verkauft, ein paar Surfboards und Mountainbikes aufs Autodach schmissen und losfuhren. Durch die weitreichenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens, wie wir sie momentan erleben, haben sich meine Träume von Freiheit, fernen Ländern und Abenteuern verändert. Freies und unbeschwertes Reisen wird für längere Zeit schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich. Ich habe an meinen Reisen geschätzt, dass ich mich jeden Tag aufs Neue mit unerwarteten Situationen auseinandersetzen und mich diesen anpassen musste. Reisen hat mich gelehrt, dankbar für den Moment zu sein und vor allem ein Stück weit loszulassen. Eben nicht immer alles im Griff zu haben, dafür aber das Beste aus jedem Tag zu machen. Loslassen, Kontrolle abgeben, akzeptieren, mit dem Flow gehen und sich von positiven Gedanken leiten lassen. Das ist eigentlich genau das, was wir jetzt auch brauchen, wenn unsere sonst als selbstverständlich hingenommene Freiheit eingeschränkt ist. Mir hilft es innezuhalten, mich an meine Reisen zu erinnern und auf die Privilegien zu besinnen, die ich als Bürger Europas habe und die mir lange viel zu normal erschienen.
Warum darf ich bei Carlos im spanischen Algeciras für knapp 100 Euro ein Fährticket kaufen und gemütlich mitsamt meines Geländewagens in rund zwei Stunden von Europa nach Nordafrika schippern, während in der Gegenrichtung viele Menschen massive Gefahren für Leib und Leben auf sich nehmen und einer ungewissen und schwierigen Zukunft entgegensehen?
Sehnsuchtsvoll in Träumen reisen
Aber auch mir fehlen das Reisen, die Abenteuer und die Unbeschwertheit sehr. Es ist gerade das erste Mal in meinen 32 Jahren auf diesem Planeten, dass ich nachschauen muss, wo und wie ich mich im Moment bewegen darf, dass meine Reisefreiheit eingeschränkt ist. Bis vor einigen Jahrzehnten war dies in Teilen Europas Alltag – in vielen Ländern der Welt ist es heute noch so. Wenn ich länger als drei Wochen am selben Ort bin, macht sich eine gewisse Unruhe in mir breit. Meine Füße fangen an zu kribbeln und wollen weiter. Weiter auf nicht ausgelatschten Pfaden, weiter ins Ungewisse, weiter in unberührte Natur und zu interessanten Begegnungen mit Menschen, von denen ich etwas lernen kann. Menschen, die mich mit ihrer Sicht auf die Welt inspirieren, mit ihrer Lebensart bereichern, mich zum Nachdenken anregen und mir oft eine völlig neue Perspektive eröffnen. In meinen Augen ist diese Freiheit des Reisens und des Fühlens eines der höchsten Güter unserer Zeit. Bewusst wurde mir das allerdings erst in den letzten Wochen. Ich erwische mich in letzter Zeit relativ häufig dabei, wie ich als Folge von latentem Abenteuerdefizit auf den Websites des Auswärtigen Amtes und den Konsulaten im Ausland nach Updates zu Ein- und Ausreisebeschränkungen meiner Lieblingsreiseländer recherchiere und dabei heimlich von neuen Trips in die abgelegensten Regionen dieser Welt träume. Dabei bleibt eine Sehnsucht zurück, wie sie für mich vor zwei Monaten noch undenkbar gewesen wäre – da wäre ich einfach losgefahren.
Als man Pläne noch kurzfristig umwerfen konnte
Aber zurück zur eigentlichen Reisegeschichte. Wenige Wochen nach unserem Aufbruch saßen wir bei 39 Grad Außentemperatur in der Nähe von Jokkmokk, etwa 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, in einer weit von der Zivilisation entfernten schwedischen Sami-Siedlung und ließen uns von Mücken zerfressen.
Moment mal – ist das nicht die völlig falsche Richtung? Wolltet ihr nicht nach Afrika? Ja, schon. Beim Reisen läuft eben nicht immer alles direkt nach Plan, und damals konnte man Pläne einfach kurzfristig umwerfen. Kurz vor Abfahrt haben wir uns gedacht: Warum nicht vom Nordkap straight zum Südkap fahren? Auf dem ersten Teil der Reise durch ganz Skandinavien waren wir nachts um zwei Uhr unter der Mitternachtssonne perfekte Wellen an der norwegischen Westküste surfen, haben tagelange Wanderungen mit Zelt durch die fast unberührte Landschaft Nordschwedens gemacht, ohne je einen Menschen zu Gesicht zu bekommen und haben verwundeten Rentieren in Finnland über die Straße geholfen.
Ein ziemlich geiler Auftakt für eine lange Zeit auf der Straße. Unsere erste und einzige Nacht am Nordkap war dann doch eher durchwachsen und geprägt von Orkanböen, Regen und dichtem Nebel – die Worte meines Großvaters als ich ihm vom Nordkap erzählte hallen noch heute in meinen Ohren nach: „In 30 Jahren Skandinavien-Reisen hab ich diesen verdammten Ort noch nie ohne Nebel gesehen.“ Er sollte recht behalten. Wir waren zwar physisch dort, rein optisch hätte es aber genau so ein x-beliebiges Hochmoor im Harz sein können. Egal, weiter geht’s: Über Finnland und das Baltikum durch Polen, Deutschland, Frankreich, und Spanien nach Portugal. Die Erinnerungen an die Zeit in den baltischen Staaten und Polen sind aufgrund einiger selbstgebrannter Getränke leicht getrübt, weshalb ich direkt in Portugal weitermache.
Zu erwähnen ist jedoch noch unsere erste richtige Nacht mit dem Auto und Dachzelt direkt am Strand – die war nämlich, nicht wie vielleicht anzunehmen in Norwegen oder Schweden, sondern in Litauen, an einem wunderbaren und menschenleeren Ostseestrand. In Norwegen und Schweden gibt es derartig viele Schranken und „Durchfahrt Verboten“-Schilder, dass wir das erste Mal totale Freiheit beim Campen mit Auto in Litauen erlebt haben.
Auf dem Weg Richtung Süden
In Portugal sind wir in unserer ersten Nacht direkt nach der spanischen Grenze in ein völlig verrücktes Bergdorf gestolpert, in dem alle Tiere frei auf den Straßen herumliefen und wir direkt zum großen Grillfest mit sämtlichen Dorfbewohnern eingeladen wurden. Anlass des Festes war, dass ein Bauer des Dorfes von einem seiner Bullen beim Füttern der Herde so kräftig auf die Hörner genommen wurden, dass er auf der Intensivstation wieder aufgewacht ist. Die Legende besagt, dass er danach zu seiner Frau gesagt haben soll: „Wenn ich das hier überlebe, schlachten wir den Bullen und machen ein großes Grillfest fürs ganze Dorf.“ Und da standen wir also, schwer betrunken mit einem riesigen Becher Wein und einer Semmel mit feinstem Bullen-Fleisch in der Hand mitten in einem portugiesischen Bergdorf umringt von wahnsinnig netten Menschen. Nach Einbruch der Dunkelheit und noch mehr Wein hat sich dann ein besonders engagierter Dorfbewohner zur Aufgabe gemacht, mir das Akkordeon-Spielen beizubringen, was in der Gegend sowas wie ein Nationalsport ist. Das Handyvideo meiner kläglichen Versuche ist am nächsten Morgen in der dorfeigenen WhatsApp Gruppe viral gegangen.
Wann werden wir das nächste Mal so ein Fest erleben? Egal ob hier in Deutschland, oder am anderen Ende der Welt? Ich weiß es nicht. Doch Träumen bleibt zum Glück nach wie vor uneingeschränkt erlaubt und das Schmieden neuer Plänen für große Abenteuer fühlt sich gut an. Für mich persönlich sind Reisen, Abenteuer und die Ungewissheit, was hinter der nächsten Düne passiert, die wertvollsten Dinge im Leben. Dagegen würde ich jederzeit jede Art von Vier-Wänden, Komfort oder einen sicheren Job eintauschen. Das Gefühl nach einem langen Tag in der Wüste mitten im Nirgendwo mit einem kalten Bier und netten Leuten am Feuer unterm Sternenhimmel zu sitzen ist einfach mit nichts aufzuwiegen. Aber solange das nicht geht, stille ich meinen Entdeckerdrang einfach vor der Haustür. Mit Mountainbike, Wanderschuhen, SUP, Camping-Equipment und ein bisschen Phantasie lassen sich auch Zuhause tolle Dinge erleben.