Ich bin ein Bergmensch. Und wie fast jeder Bergmensch träume ich den romantischen Traum irgendwann mal am Berg zu leben. Eigentlich hatte ich den Plan, es für einen Sommer oder ein paar Wochen auszuprobieren und in einer Hütte als Mädchen für alles zu arbeiten. Mal etwas ganz anderes zu machen als Journalismus. Als ich die Jobs checke, finde ich die Anzeige: Es steht eine Hütte zur Pacht ausgeschrieben, die wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge zu mir passen würde. Meine Chancen? Eigentlich keine, weiß ich, denn ich habe keine Hüttenerfahrung, noch nicht mal in irgendeiner Kneipe gejobt. Das schreibe ich auch ins Anschreiben und so kluge Dinge wie: „Ich habe, was man nicht lernen kann: Die, wie es in Neudeutsch und Bewerbungssprech so schön heißt, Softskills eines Hüttenpächters: Naturverbundenheit, Bergliebe, den Blick fürs Detail und vor allem den Umgang mit Menschen!“ Ist klar.
Zu meiner Überraschung werde ich zum Gespräch eingeladen. Vor mir sitzt eine ziemlich große Runde Männer. Wie ich mir den perfekten Hüttenpächter vorstelle? Er muss ein Gastgeber sein, kein Stoffel, der sich in seiner Küche verkriecht. Er darf nicht aussehen, als wäre er vor zwanzig Jahren das letzte Mal auf dem Olympiaberg gewesen. Er muss die Bergliebe der Gäste teilen und wissen, wo man zehn Tage nach dem letzten Schneefall noch Powder findet. Als mich ein netter, älterer Herr fragt, wie ich als „zierliches Mädel“ die Bierfässer von der Materialseilbahn in den Keller wuchten will, muss ich schmunzeln. Ich freue mich auf den harten Teil des Jobs als Hüttenwirtin. Erst recht darauf, mich mit der Technik für Kleinklärwerk und Materialseilbahn auseinandersetzen zu müssen. Technik, anpacken und körperliche Arbeit – das mag ich, erzähl ich ihnen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich nur amüsant finden, oder wirklich gut.
Ich finde mich ganz schön cool
Die Pachtbedingungen hören sich traumhaft an, so eine Chance kriegt man nicht zweimal – soviel ist klar. Auf der Autofahrt vom Bewerbungsgespräch nach Hause schreibe ich im Kopf schon eine Pressemitteilung. Ich sehe mich fürs Pressefoto im Dirndl vor der Tür stehen. Ich weiß sogar, welchen Fotografen ich fürs Shooting zu mir bitten würde. Ich sehe mich Fernsehinterviews geben. Ich weiß genau, wie die Tischdecken und die Vorhänge aussehen werden. Welche Musik, welches Bier, welcher Schnaps – vielleicht sogar Gin. Die Eröffnungsfeier ist quasi schon organisiert.
Ich weiß noch nicht so genau, was auf der Speisekarte steht. Klar ist aber, dass sie auf keinen Fall aus Plastik sein darf. Und ich muss unbedingt mit Foodbloggern zusammenarbeiten, die meine 100 Prozent hausgemachten, alpenländischen Gerichte nachkochen und instalike inszenieren. Im Kopf benenne ich meinen eigenen Instagram–Account um und plane die Posts von der Frühlingsskitour bis zum Gumpenspringen im Sommer. Der Social-Media-Plan? Ist fertig. Ich sehe die komplette Geschichte und mich mittendrin. Ich gefalle mir in der Rolle. Ich finde mich ganz schön cool.
Was will ich eigentlich?
Die Verpächter mich offenbar auch. Viel früher als erwartet klingelt das Telefon und sie bieten mir die Hütte zur Pacht an. Ich muss mich erst einmal hinsetzen. In meinem Kopf nagen die Selbstzweifel: Will ich wirklich die Hütte? Oder will ich sie nur, weil es so eine wahnsinnig tolle Geschichte wäre? Und ich dann so unfassbar mutig? Weil mich alle so hart dafür feiern würden? Weil ich das Gesicht vom Bekannten meiner Eltern sehen will. Der Typ, der mich jedes Mal fragt, ob ich jetzt schon einen „richtigen“ Job als „Ansagerin“ bei der Tagesschau habe und mir endlich mal eine Eigentumswohnung in München kaufe.
Was will ich wirklich? Außer allen zu beweisen, dass ich alles mögliche – und gerade das, was mir keiner zutraut – drauf habe?
Klar weiß ich, dass die Realität auf einer Berghütte anders aussieht als das Klischee. Auch wenn die Heidi-Titelmelodie mein Handyklingelton ist, ist mir bewusst, dass der Job als Hüttenwirtin mit Heidi-Romantik wenig zu tun hat. Es ist mir klar, dass ich bei Bombenwetter nach dem Schneefall des Jahres den ganzen Tag in der Küche stehen und Kartoffeln schälen oder Knödel rollen würde. Dass ich, statt jeden Tag den Sonnenaufgang von einem anderen Gipfel aus anzusehen, Klos putzen müsste. Dass es nicht nur lustige Bergführer mit netten Gruppen geben wird, die einen Schnaps nach dem anderen bestellen und mich einladen – sondern auch die „Für mich nur ein großes Leitungswasser, bitte“-Fraktion.
Sind die Berge Bezahlung genug?
Am Ende sitze ich da und heule. Nicht etwa wegen des finanziellen Risikos, weil ich meinen Job aufgeben oder meine geliebte Wohnung kündigen müsste. Sondern, weil ich keine Antwort weiß auf die Frage: Sind mir die Berge vor der Haustür Bezahlung genug? Sind sie wirklich ALLES für mich? Kann ich sie gegen die vielen Möglichkeiten tauschen, die ich jetzt habe? Donnerstags noch nicht zu wissen, was ich Samstags mache? Ob ich das Mountainbike, die Tourenski oder doch besser die Wanderstiefel mitnehme? Dass ich morgen theoretisch hinreisen kann, wo ich gerade hin möchte? Spontan nach Italien? Schnell mal nach Stockholm? Dass ich – auch wenn ich es nur einmal im Jahr mache – theoretisch jedes Wochenende bis zur Morgendämmerung in den Clubs der Stadt abstürzen könnte? Dass ich Sushi bestellen kann, wenn ich Bock darauf habe? Einfach zu Freunden fahren kann, wenn ich sie sehen will?
Wenn man nur „ja“ sagen muss und dann ein Traum Realität wird, fragt man sich viel mehr, auf was es einem eigentlich ankommt im Leben. Meine Freiheit war mir am Ende dann doch wichtiger, als die Berge vor der Haustür. Wenn ich die sehen will, gehe ich sie besuchen. Fast jedes Wochenende.